Rasterfrau: Knobels achter Fall (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
das Haus verlassen hatten. »Auch, wenn sich Kreimeyer seiner Sache sicher scheint.«
»Es hört sich nicht nach einem Irrtum an«, sagte Stephan. Er holte Trosts Handy hervor und reichte es ihm.
»Hat es dir genützt?«, fragte Trost.
»Ich habe es nicht benutzt.«
»Das war nicht meine Frage«, entgegnete Trost. »Hast du über unser gestriges Gespräch nachgedacht?«
»Natürlich.«
»Wir sollten bald in Klausur gehen. Wir müssen unser Verhältnis zueinander klären – und über unsere Projekte sprechen. Es geht um mein Lebenswerk – und für dich vielleicht um die Chance schlechthin, soweit es deine beruflichen Perspektiven angeht. Wir werden an einen Ort fahren, der für mich symbolische Bedeutung hat. Es ist der Ort, an dem vor rund sechs Jahren an einem Sommerwochenende die Idee der ›Zehn‹ geboren wurde. Du weißt, wie sehr ich mir wünsche, dass du dich dort engagierst. Die Idee lebt und überlebt nur durch Menschen, die sie im Herzen tragen.«
»Welcher Ort?«, fragte Stephan. Trosts Offensive überforderte und überraschte ihn. Erst gestern hatte Trost gesagt, dass er Stephan in den nächsten Tagen noch einmal darauf ansprechen wollte. Was machte die Sache nun noch eiliger?
»Chamanna Jenatsch.«
»Wie?«
»Eine Berghütte in Graubünden in der Schweiz. Es ist ein idealer abgeschiedener Ort. Beste Voraussetzung, um in Ruhe die Gedanken schweifen zu lassen und sie dann zu ordnen. Außerdem ist es ein Ort, an dem der Fall Wendel gewissermaßen seinen Ausgangspunkt hat. Lass uns dorthin fahren, Stephan! Die Zeit drängt, ich spüre es.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Vertraue mir einfach, Stephan. All deine Fragen werden beantwortet werden. Auch im Fall Wendel.«
»Warum nicht hier, warum nicht jetzt?«, fragte Stephan.
»Weil es hier nicht geht. Weil ich Ruhe und Freiheit benötige, um die Zusammenhänge zu erläutern, die du nicht auf Anhieb verstehen wirst. Und weil auch du Zeit benötigen wirst, um deine eigenen Entscheidungen zu treffen.«
»Was du sagst, macht mir Angst«, bekannte Stephan. »Zugleich merke ich, dass der Fall Wendel mehr und mehr Abgründe offenbart.«
»Ich weiß«, sagte Trost leise.
»Weshalb diese Berghütte, Gereon? – Warum treffen wir uns nicht irgendwo im Münsterland oder im Sauerland?«
»Münsterland oder Sauerland?« Trost lächelte. »Diese Gegenden sind nicht weit genug weg. Was ich dir zu sagen habe, nimmt Zeit in Anspruch. Und es sind vielleicht Wahrheiten, die dich in die Flucht treiben könnten. Manches wird dir nicht gefallen, einiges wirst du nicht verstehen, aber am Ende wird sich ein schöner Horizont für dich auftun. Du musst Zeit haben, selbst in Ruhe nachzudenken, dich vielleicht drei oder vier oder noch mehr Stunden zurückziehen, um dann weiter in die Tiefe zu dringen. Es sollen all deine Fragen beantwortet werden, Stephan. Aber ich habe die Hoffnung, dass du am Ende verstehst, vielleicht sogar verzeihst. Mehr kann ich dir jetzt wirklich nicht sagen. Ich kann nur an dich appellieren, meine Ernsthaftigkeit und meinen guten Willen zu erkennen. Es ist eine lange Fahrt dorthin, aber die Hütte wird dich begeistern. Es gibt Orte, wo man mit sich selbst allein sein darf. Im Moment herrscht ganz ordentliches Wetter. Lass uns die Zeit nutzen und fahren – direkt morgen, am 26.!«
»Morgen, am Donnerstag schon?«
Trost nickte. »Ja, die Zeit drängt. Ich werde gleich für uns zwei Frühflüge nach Zürich im Internet buchen. Von da aus fahren wir mit dem Zug ins Engadin. Wir werden am Abend auf der Hütte sein. – Besprich dich mit Marie«, sagte er, wie er es immer tat, wenn er einen Schritt nach vorn gehen wollte.
Trost versuchte, sich gelassen zu geben, doch er war es nicht. Sein Gesicht war fahl und ausgelaugt. Stephan spürte, dass Trost nun aus der Deckung hervortrat, in der ihn Marie stets vermutet hatte. Er hatte seine Sicherheit verloren, war entschlossen, etwas zu offenbaren, in das er verstrickt war, und blieb dennoch eigenartig zögerlich.
Trost griff in die Innentasche seiner Jacke und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier und einen Kugelschreiber hervor. Mit zittriger Hand kritzelte er den Namen der Berghütte auf das Blatt und reichte es Stephan. Stephan las die Worte Chamanna Jenatsch, die er zuvor noch nie gehört hatte.
»Es ist dort nicht einsam«, erklärte Trost. »Die Hütte hat über 70 Schlafplätze. Irgendwer ist immer da. Wichtig ist nur die Abgeschiedenheit von der restlichen Welt. Man kann sich in Winkel
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