Rasterfrau: Knobels achter Fall (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
Gebirge.
»Herr Dr. Trost?«, fragte Marie nach einer Weile.
»Ja, ich bin noch da. Der Kontakt wird gleich abbrechen, Frau Schwarz. Soweit ich mich erinnere, folgt in Kürze Tunnel auf Tunnel. Es ist schon einige Jahre her, dass ich das letzte Mal hier war, aber ich weiß, dass das Telefonieren im Zug nicht richtig funktionierte. Ich verabschiede mich jetzt von Ihnen, Frau Schwarz. Passen Sie auf sich auf!«
Er gab Stephan das Handy zurück.
»Pass auf, bitte!«, sagte Marie. »Elisa und ich brauchen dich.«
»Du bist ja richtig feierlich«, antwortete Stephan gerührt. Er gab ihr einen Kuss durchs Telefon.
Trost lehnte sich in das Polster zurück und starrte unbewegt in die Landschaft. Tatsächlich folgten Tunnel und Brücken in rascher Folge und der zu Beginn dichte Nadelwald, der bis an die Strecke heranreichte, wurde zunehmend lichter. Der Zug gewann an Höhe. Einzig vor dem Überqueren des weltbekannten Landwasserviadukts regte sich Trost, machte auf diese Besonderheit aufmerksam und lehnte sich mit Stephan aus dem Fenster, als der Zug in einer Rechtskurve die Viaduktbögen und den fast 70 Meter unter ihnen dahinschäumenden Fluss überquerte und unmittelbar anschließend vom Tunnel in einer steil abfallenden Felswand verschluckt wurde. Dann ließ sich Trost wieder auf seinen Platz fallen, blickte auf die Uhr und bemerkte, dass man bald am Ziel sei. Stephan versuchte, den verwirrenden Verlauf der Strecke durch Schleifen und Kehrtunnel zu verfolgen, bevor der Zug mit der Einfahrt in den Albulatunnel in das Oberengadin wechselte. Jetzt stand Trost auf, schnürte seinen Rucksack und zog die Bänder seiner Bergschuhe nach. Dann erreichten sie Spinas. Außer ihnen verließ niemand den Zug.
Unmittelbar an der kleinen Bahnstation begann der Weg zu der bereits hier ausgeschilderten Hütte und stieg zunächst sanft über Viehweiden an. Stephan spürte schon jetzt seine Füße in den seit Jahren nicht mehr benutzten Wanderschuhen, die er zum Zweck der Gewöhnung seit dem Umstieg in den Zug der Rhätischen Bahn in Chur trug. Er merkte, dass diese Zeit zu kurz gewesen war. Auch der Rucksack drückte und war von Marie mit viel zu vielen Dingen gefüllt worden. Vereinbarungsgemäß sandte er an Marie eine SMS, dass die Zugfahrt gut verlaufen sei und er sie nach der Ankunft auf der Hütte vom Festnetz aus anrufen werde. Danach schaltete er das Handy ab, um den Akku zu schonen. Ausweislich des Internets verfügte die Hütte zwar über eine Fotovoltaikanlage und über eine kleine Wasserturbine, um elektrischen Strom zu erzeugen. Aber es war ungewiss, ob damit auch eine Steckdose für die Allgemeinbenutzung gespeist wurde.
Der anfangs noch gut begehbare Weg wurde steiniger und steiler und verengte sich irgendwann zu einem ausgetretenen Pfad, der immer häufiger über größere Geländekanten und felsige Stufen führte. Gereon Trost ging leichtfüßig vorweg, hielt die Hände auf seinem Rücken unter dem Rucksack verschränkt und blickte sich immer wieder zu Stephan um, der zunehmend die körperliche Anstrengung spürte und müde wurde. Er war gegen drei Uhr in der Frühe aufgestanden. Die lange Reise bis hier und die unmittelbar anschließende anspruchsvolle Wanderung belasteten, doch er sagte nichts. Dem etliche Jahre älteren Gereon Trost waren keine Mühen anzumerken. Er gab sich so, wie er auch seinen Beruf ausübte: zäh und von eiserner Geduld beherrscht. Zwischendurch legten sie eine Rast ein, bei der Gereon Trost eine luftgetrocknete Mettwurst, Käse und Baguettestücke aus seinem Rucksack zauberte, dazu Blutorangensaft.
»Man muss den Salzhaushalt im Körper im Auge behalten und reichlich trinken«, sagte er und überließ Stephan den größten Teil der Nahrungsmittel. Tatsächlich schmeckten Wurst und Käse hier so gut wie sonst nirgends. Stephan genoss die Pause, beruhigte seine Atmung und blickte zurück in das steil hinter ihnen abfallende Tal, durch das sie bis hierhin angestiegen waren. Der Ausgangspunkt ihrer Wanderung war längst nicht mehr sichtbar, und auch die Baumgrenze lag bereits hinter ihnen. Hier oben fand sich nur noch spärliche Vegetation. Es waren dürre Sträucher, Gräser und einige wild wachsende Blumen, deren Wurzeln in dem steinigen Boden Halt fanden und der oft extremen Witterung trotzten. Dann ging es weiter. Gereon Trost strebte wieder voran und begann die verbleibende Zeit bis zum Erreichen der Hütte herunterzurechnen. Stephan merkte, dass Trost ihn wie ein ungeduldig gewordenes
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