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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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nach sechs zur Arbeit erschienen. Dann war der Strom ausgefallen. De Gaulle hatte sofort an einen Kunstraub gedacht und war zum seiner Meinung nach einzig wahrhaftigen Werk der Kunstgeschichte geeilt. Mona Lisa lächelte.
    Sie lächelte, obwohl die Pforten des Louvre geschlossen blieben. Sie lächelte auch, als nach und nach alle Mitarbeiter verschwanden, sich leise wie Diebe davonschlichen, hinaus auf die Straßen, in denen das Chaos ausgebrochen war. Sie belächelte die Uniformierten, die am Nachmittag des 23. Mai erschienen und den Haupteingang sicherten. Nach wenigen Stunden zerstreuten sich die Bewaffneten, führungslos vom Irrsinn, der die Stadt erfasst hatte, mitgerissen. Und Mona Lisa lächelte dazu.
    Gestern, am Donnerstag, waren fünf oder sechs Jugendliche eingebrochen. Sie waren betrunken und hatten wahllos Bilder von den Wänden gerissen. Sie hatten sich allein geglaubt und als de Gaulle plötzlich mit gezogener Dienstpistole vor ihnen stand, hatten sie alles stehen und liegen lassen und waren aus den heiligen Hallen gerannt. Sie blieben nicht die einzigen Eindringlinge – der Louvre wurde zum Selbstbedienungsladen, ein ungesicherter und unbewachter Ort im Herzen der französischen Hauptstadt.
    Als die sechs mit Vorschlaghammer und Brecheisen ausgerüsteten Männer kamen, saß de Gaulle vor Mona Lisa und bewunderte ihr Lächeln. Auch nach so vielen Jahren und unzähligen Stunden mit ihr verzauberte sie ihn wie am ersten Tag. Er verachtete all die sogenann ten Kunstkenner, Historiker und Kritiker, die wieder und wieder am Versuch scheiterten, dieses Lächeln zu erklären und in banale Worte zu fassen. Muskelatrophie wurde als Ursache benannt, das Fehlen ihrer Schneidezähne vielleicht oder eine Schwangerschaft. Schließlich fanden sie sogar Anzeichen einer Blutkrankheit.
    Und Mona Lisa lächelte über alle und alles.
    Die sechs Männer durchquerten im Schein ihrer Taschenlampen das Museum. Sie hatten ein bestimmtes Ziel, ein Ziel, das sie an millionenschweren Kunstschätzen vorbeiführte: den drei Grazien von JeanBaptiste Regnault hatte jemand mit schwarzer Farbe Umhänge über die nackten Körper gemalt und der Kronleuchter Napoleons III. lag zerstört am Boden. Die Männer stiegen gleichgültig darüber hinweg.
    De Gaulle hörte sie kommen. Sie lachten. De Gaulle wusste, wonach sie suchten, hatte von Anfang an gewusst, dass früher oder später jemand kommen musste. Aber dass es heute schon sein musste? Egal – sie war sein Leben und er musste sie mit seinem Leben verteidigen. Er hielt die Waffe in der Hand, die er noch niemals abgefeuert hatte, von der er nicht einmal sicher sagen konnte, ob sie überhaupt funktionierte. Er erwartete die Eindringlinge. Sollen sie doch nehmen, was immer sie wollen – dieses Bild bleibt hier!
    Die Waffe gab nur ein Klicken von sich, er hatte vergessen, das Magazin einzulegen. Und während vier der Männer das Panzerglas mit ihren Werkzeugen bearbeiteten, kümmerten sich die anderen beiden um de Gaulle.
    Jacques de Gaulle verteidigte Mona Lisa mit seinem Leben

59
    20:00 Uhr, Wellendingen
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    Hildegund Teufel war siebenundachtzig Jahre alt. Wie lange sie in Wellendingen lebte? Sie kratzte sich am Kopf. Wer weiß das schon? Wer weiß schon, wie viel Zeit wer, wo und mit wem verbringt? Ist doch alles subjektiv. Und egal ist es außerdem.
    Sie deckte den Tisch, ordentlich und so, wie sie es vor vielen Jahrzehnten gelernt hatte. Denn sie erwartete Besuch. Endlich. So, dachte sie, hat diese Katastrophe also doch etwas Gutes. Ohne den 23. Mai hätte sie auch diesen Abend wieder allein verbringen müssen, so aber kamen Gäste.
    Bis zu ihrem fünfundsiebzigsten Lebensjahr hatte sie im Pfarrhaus gelebt, wie es sich für die Haushälterin des Pfarrers gehörte. Vor Jahren war sie die graue Eminenz der Pfarrei gewesen und hatte in vielen Jahrzehnten einigen Pfarrern gedient. Zuerst war da der greisenhafte Pfarrer Zeller − ein erzkonservativer Mann mit einem vergilbten Porträt des letzten Kaisers neben einem Marienbildnis im Pfarrbüro. Er weigerte sich seinerzeit, ein unehelich geborenes Mädchen zu taufen. Hildegund Teufel fand ihn eines Morgens tot in seinem Bett. Das war in ihrem zweiten Jahr in Wellendingen, also fast schon nicht mehr wahr.
    Pfarrer Bodenmüller traf bereits eine Woche nach Zellers Ableben ein. Der Mittfünfziger kam aus einer großen Pfarrei in Offenburg. Wie man etliche Jahre später herausfand, hatte ihm seine Neigung, kleinen Jungen im

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