Rattentanz
dieses Wort zu benutzen. Als sie es schließlich doch gebrauchte, gab sie zu, dass ein Vorher und ein Nachher existierten. Vor der Katastrophe und nach der Katastrophe, so wie vor und nach Christus.
»Ich hoffe es. Aber vorstellen …« Beck stand auf und kontrollierte zum fünften oder sechsten Mal das Seil, mit dem er das Tor verschlos sen hatte. »Damit heute Nacht keine Tiere reinkommen«, erklärte er. »Die können ihre Scheune morgen wiederhaben.« Er blieb an der Tür stehen, offensichtlich ging ihm Evas Frage noch durch den Kopf. »Aber selbst, wenn alles irgendwann wieder funktionieren sollte, wird nach dem, was inzwischen geschehen ist, nichts mehr so sein wie früher. Wir haben gesehen, welch kleiner Funke ausgereicht hat und alles bricht zusammen. Wer soll später einmal diejenigen anklagen und verurteilen, die, wie vorgestern in Donaueschingen, plötzlich Amok laufen? Wie solche Typen wie diesen Ritter und seine Kumpane. Oder die Jugendlichen, die den Türken das Dach überm Kopf angesteckt haben?«
»Der Staat? Unsere Regierung?«
»Sicher. Klar. Aber wo sind unser Staat und unsere Regierung jetzt, wo wir sie am nötigsten hätten? Wer weiß, ob wir überhaupt noch einmal solch einen Staat wollen? Vielleicht erfinden wir auch eine ganz andere Gesellschaftsordnung, später einmal, wenn alles wieder funktioniert.« Verwundert stellte er fest, dass er noch immer am Tor stand und das Seil in den Händen hielt.
»Es wird schon irgendwie weitergehen.«
58
18:41 Uhr, Louvre, Paris
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Jacques de Gaulle war allein im Museum, das erste Mal seit dreiundvierzig Jahren.
Im Alter von achtzehn Jahren war er aus der Provinz in die Hauptstadt gekommen und hatte einige Jahre an der Sorbonne im 5. Arrondissement Kunst und Geschichte studiert. Finanziert hatte er sein Studium mit Gelegenheitsarbeiten, einmal als Briefträger, dann als Lagerarbeiter, Barkeeper und Fremdenführer. Als er von einem Studienfreund erfuhr, dass die Sicherheitsabteilung des Louvres Mitarbeiter suchte, hätte er niemals gedacht, dass der Louvre sein Leben werden sollte. Er bekam den Job, studierte noch ein Semester ohne rechtes Interesse weiter, dann kehrte er der Sorbonne und all seinen Ambitionen den Rücken. Er nahm sich eine winzige Wohnung ganz in der Nähe seines Arbeitsplatzes und beschloss, fortan zufrieden zu sein. Mit Anfang zwanzig hatte er gefunden, wonach viele ein Leben lang vergeblich suchen – den Ruhepunkt, um den sich alles Weitere drehen sollte, den Sinn der eigenen Existenz, das Ziel eines Lebens, welches gleichzeitig Ausgangspunkt und Weg an sich war. Denn er hatte da Vincis Mona Lisa gesehen – ein paar Quadratzentimeter, die alles veränderten.
De Gaulle wurde von allen respektiert, belächelt manchmal, vielleicht auch beneidet. Seine Wohnung, die er in diesen dreiundvierzig Jahren weder gewechselt noch renoviert und schon gar nicht mit neu en Möbelstücken versehen hatte, diente ihm einzig als Schlafplatz, als eigentliches Zuhause bezeichnete er seinen Louvre und dort zuallererst die Stelle, an der ihn Mona Lisa durch eine zentimeterdicke Panzerglasscheibe hindurch anlächelte. Er konnte nach Dienstschluss stun denlang zwischen wechselnden Besucherströmen ausharren – ein Fels inmitten der Touristenbrandung. Ringsum wurde bestaunt und ge gafft. Ein babylonisches Stimmengewirr sezierte da Vincis Meisterwerk und versuchte, hinter die Geheimnisse ihres Lächelns zu kommen, während Jacques de Gaulle innerlich mit dem Bild zu verschmel zen schien und von seiner Umgebung nichts mehr mitbekam.
Seine Kollegen hatten sich an de Gaulles Marotte gewöhnt. Zuerst wurde er belächelt. Sein Vorgesetzter verlangte sogar ein psychologisches Attest, welches de Gaulle mit Bravour bestand. Eine für das Alter des Patienten ungewöhnliche persönliche Stärke und Ausgeglichenheit attestierten sie ihm. Eine Zeitlang kursierten Witze, die seine offensichtliche Verliebtheit auf die Schippe nahmen, schließlich aber gewöhnte man sich an ihn und inzwischen zählte Jacques de Gaulle selbst zu den Meisterwerken des Louvres.
Vor ein paar Jahren, zu seinem vierzigsten Dienstjubiläum, hatte eine Pariser Illustrierte einen mehrseitigen Bericht über den damals Dreiundsechzigjährigen gebracht. Seitdem kam es immer wieder vor, dass Besucher explizit nach de Gaulle fragten und, wenn sie Glück hatten, fanden sie ihn in der Nähe seiner Mona Lisa stehen und entrückt das Kunstwerk betrachten.
Wie jeden Tag, war er auch vorgestern kurz
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