Raue See
mischte sich Zielkow ein. »Ich werde gleich zu Ihrem Onkel fahren und die beiden warnen. Außerdem werde ich anordnen, dass um das Gelände, auf dem Ihre Familie derzeit wohnt, verstärkt Streife gefahren und gegangen wird.«
»Das ist eine gute Idee, Eberhard«, meinte Bergmüller. »Außerdem, Wiebke: Meinst du, er lässt dich in Ruhe, wenn du ihn nicht jagst? Meinst du, dadurch wäre deine Familie sicherer? Nein, du bist es ihnen und den Opfern schuldig, dass der Täter gefasst wird. Du bist es auch denen schuldig, die er vielleicht noch töten wird. Und du bist es dir schuldig.«
»Okay«, sagte sie, tief ein- und ausatmend. »Aber heute kann ich nicht mehr. Heute muss ich nach Hause.«
Langsam gingen sie zurück zum Präsidium. Wiebke wollte sich verabschieden, um zu ihrem Dienstwagen zu gehen.
»Halt«, sagte Zielkow. »Sie fahren nicht.«
»Warum nicht?«, fragte sie verwundert.
»Weil sie emotional noch viel zu aufgewühlt sind, darum«, antwortete Zielkow mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete.
»Und wie soll ich dann nach Hause kommen? Soll ich mir ein Taxi rufen?«
Zielkow schüttelte den Kopf. »Wir werden einen Kollegen oder eine Kollegin bitten, Sie zu fahren. Kommen Sie noch mal kurz mit rein.«
Im Gebäude verabschiedete sich Bergmüller und eilte wieder in den Konferenzraum. Zielkow wandte sich an eine uniformierte Beamtin, die den Flur entlanglief. »Frau Svenson?«, rief er. Die junge Frau blieb stehen, drehte sich um, erkannte Zielkow und kam zu ihm und Wiebke.
»Ja, Herr Zielkow? Was kann ich für Sie tun?«
»Ich möchte Sie bitten, Frau Menn nach Hause zu bringen. Sie, äh, fühlt sich nicht so gut.«
Als wenn ich nicht für mich allein sprechen könnte, dachte Wiebke, war aber doch dankbar für die Fürsorge, die Zielkow ihr angedeihen ließ.
»Selbstverständlich.« Lena Svenson lächelte Zielkow freundlich an. »Ich habe sowieso gleich Feierabend. Das passt super.«
»Vielen Dank. Ich verabschiede mich. Ich werde noch zu dieser Sitzung gehen.«
»Natürlich, Chef«, sagte Wiebke. »Und danke.«
»Dann kommen Sie mal mit, Frau Kollegin«, sagte Lena Svenson, »ich will mich nur noch kurz umziehen«, und Wiebke folgte ihr zu den Umkleideräumen.
* * *
Bergmüller hatte mit der DVD auf Zielkow gewartet. Als dieser den Raum betrat, startete er den Player. Es war, als würden sie eine Kopie der ersten beiden Filme sehen. Ein nicht zu identifizierender, nur in Umrissen erkennbarer Mann hielt die Samstagsausgabe der »Norddeutschen Neuesten Nachrichten« vom 7. Juli in die Kamera. Danach passierte das Gleiche wie die beiden Male zuvor. Dennoch war es belastend, wie man an den Mienen der Kollegen sah. Nach qualvollen zweiundzwanzig Minuten war es endlich vorbei.
»Wenn jemand mal ein Motivationsloch hat«, sagte Bergmüller nach einigen Momenten betroffenen Schweigens, »sollte er sich diese Bilder wieder vor Augen führen. Jeder von Ihnen muss sich bewusst machen, dass in zwei Wochen – Verzeihung, Herr Franck, ich meine natürlich in spätestens zehn Tagen – ein neues Opfer zu beklagen sein wird, wenn wir das nicht verhindern. Wenn er die Wahrheit schreibt, ist es bereits in seiner Gewalt.« Bergmüller wies auf die beiden entsprechenden Zeilen des dritten Gedichts, das von Franck kopiert und auf den Beamer gelegt worden war: Eingesperrt in dem Verlies / Ist die Nächste ohnedies. »Ich denke aber trotzdem, dass für heute Schluss sein sollte. Sie machen jetzt Feierabend. Wir sehen uns morgen um Punkt sieben Uhr zur Einsatzbesprechung.«
Alles erhob sich, packte die Unterlagen zusammen und verließ den Raum.
»Äh, Herr Franck«, sagte Bergmüller. »Bitte räumen Sie noch die Technik auf und sichern Sie die Beweismittel. Ich danke Ihnen.«
Carsten Franck murmelte etwas, was niemand verstand. Dass es keine freundlichen Worte waren, war seinem Gesicht jedoch deutlich anzusehen.
»Eberhard«, rief Bergmüller dem im Gehen befindlichen Zielkow zu. »Hast du noch ein paar Minuten?«
Zielkow machte auf dem Absatz kehrt und ging zu ihm.
»Ja?«
»Ich denke, wir sollten die Nachrichtensperre aufheben. Wir haben mittlerweile den dritten Mord – jedoch nur schwarz auf weiß. Bisher haben wir keine Leichen gefunden. Aber irgendwo müssen sie sein. Vielleicht hat irgendwer etwas gesehen.«
»Du hoffst auf Kommissar Zufall?«
»Wenn du so willst, ja. Du weißt doch selbst, wie das ist. Polizeiarbeit ist zur Hälfte ein Knochenjob. Ein bisschen Glück gehört
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