Raum in der Herberge
Pilger untergebracht wurden, sondern Roland zugleich dort
wohnte. Außer seinem Schlafzimmer und dem Bad hinter der Küche, das er nur
seiner (und meiner) Benutzung vorbehielt, hatte er keine Privaträume.
Persönliche und öffentliche Nutzung des Hauses gingen fließend ineinander über,
Konflikte waren damit im Grunde vorprogrammiert.
So
kam es bald darauf wieder mal zu einem Eklat, als ein Pilger aus Rolands
bevorzugter Altersklasse nachts seine Matratze, um einem schnarchenden
Zimmergenossen zu entgehen, ins Wohnzimmer zog und dabei Rolands Kerzenturm zu
Fall brachte.
Der
arme Mann konnte froh sein, dass er am anderen Morgen für diese Untat nicht
gelyncht, sondern nur unter heftigen Vorwürfen des Hauses verwiesen wurde.
„Monatelang
habe ich diesen Kerzenturm hochgezogen, das war ein Kunstwerk — und der Kerl
haut das einfach um“, ereiferte sich Roland später, nachdem alle Pilger längst
abgezogen waren und er mir in der Küche das Vergehen im Einzelnen
auseinandersetzte.
„Und
die Matratze einfach über den Boden schleifen — womöglich ist jetzt der Bezug
beschädigt! Schließlich ist das nicht irgendein billiges Schaumstoffding,
sondern eine Federkernmatratze.“
Ich
versuchte, ein gutes Wort für den Pilger einzulegen, obwohl der im Nachhinein
nichts mehr davon hatte. „Das konnte er doch nicht wissen. Meine Güte, er war
einfach todmüde, konnte wegen dem Schnarcher nicht schlafen, und hat sich einen
ruhigen Platz gesucht. Ist das nicht irgendwie nachvollziehbar?“
Für
Roland war es das nicht oder falls doch, wollte er es nicht zugeben und dem
Kerzenbrecher lieber noch eine Weile gram sein.
Bei
anderen Gelegenheiten konnte Roland allerdings auch erstaunlich viel Langmut
und Nachsicht zeigen, offenbar hing das von seiner Tagesform ab oder zuweilen
vom Geschlecht der Pilger.
Überaus
geduldig zeigte er sich beispielsweise gegenüber einer Engländerin Anfang
dreißig, die abends ihr Frühstück nachdrücklich für fünf Uhr bestellt hatte, in
der Früh aber, ohne sich zu entschuldigen, erst um sechs erschienen war. Dann
hielt sie ihm einen Vortrag über die korrekte Zubereitung von Kakao, gefolgt
von einem längeren Diskurs darüber, dass es in keinem Land dieser Welt — außer
in England natürlich — ein vernünftiges Frühstück gebe. Während dieser
Ausführungen hatte sie sich genüsslich ein lecker duftendes Toastbrötchen dick
mit Butter und Marmelade nach dem anderen genehmigt.
„Und
was hast du zu ihr gesagt?“, wollte ich wissen, nachdem Roland mir von alledem
berichtet hatte.
„Nichts.
Das arme Ding ist schon gestraft genug“, meinte er ungewöhnlich einfühlsam.
„Das ist eines von diesen frustrierten Mädels, denen irgendwer oder irgendwas
im Leben übel mitgespielt hat. Das hat sie noch nicht überwunden, steht sich
selbst im Weg und lässt ihren Frust an der falschen Stelle raus.“
Nachsichtig
war er auch mit einer älteren Französin, die ihn morgens um vier aus dem Bett
klingelte, weil sie nach dem Abendessen statt in die Herberge zurückzukehren,
sich mit einem Pilgerkollegen aus der Pfarrherberge noch diverse Absacker genehmigt und dabei festdiskutiert hatte.
„Die
haben die ganze Nacht auf dem Barbier-von-Sevilla-Platz gesessen und zwar genau
unter meinem Fenster“, erzählte Roland später. „Sie haben über das Leben als
solches geredet und über was weiß ich nicht alles philosophiert und wie eine
Platte mit Sprung hat er immer wieder zu ihr gesagt: Auch du hast das Recht,
glücklich zu sein, auch du!“
Als
dem irgendwann nichts mehr hinzuzufügen war, hatte jeder seine Unterkunft
angepeilt, und mit einem „Ich bin — hick — okay“ war die Französin an dem
besorgt-entgeisterten Roland, der ihr die Tür geöffnet hatte, vorbei die Treppe
hinauf gewankt.
Nach
nur zwei Stunden Schlaf war sie erstaunlich frisch und wohlgemut in der Küche
zum Frühstück erschienen und zwar ohne ihre bisherigen Begleiterinnen, ohne die
sie sich nun auch auf den Weg machen wollte.
„Die
haben mich doch bloß immer gegängelt“, sagte sie und brach auf, um endlich
glücklich zu sein, wie es ihr Recht war. „Eigentlich eine hübsche Geschichte“,
meinte ich dazu. „Finde ich auch“, sagte Roland, „und darauf trinken wir jetzt
einen bei Begoña.“
Die
Pilger, die bei uns abstiegen, waren so unterschiedlich wie das Leben selbst.
Ein Phänomen war jedoch häufig zu beobachten: die „Scheinfamilien“, die
miteinander unterwegs waren. Junge Frauen gingen
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