Raum in der Herberge
überlagert, und oft kriegte ich nicht mehr zusammen,
was vorgestern gewesen war.
„Ich
verstehe das nicht“, meinte ich in einer ruhigen Minute zu Roland. „Die Arbeit
hier ist eigentlich nicht hart, ich bekomme genug Schlaf — warum empfinde ich
das alles als derart anstrengend?“
„Das
ist dieser ständige Wechsel, sich jeden Tag auf neue Leute einstellen — da
merkst du mal, wie das ist. Und du machst diesen Job jetzt mal für zwei Wochen,
ich hingegen bin das ganze Jahr Hospitalero. Verstehst du nun, warum mir
manchmal die Nerven durchgehen?“
Ich
nickte und tat ihm im Stillen Abbitte, was mir umso leichter fiel, als mich
seine cholerischen Ausraster nicht trafen. Eigentlich kamen wir sehr gut
miteinander aus. Roland war zwar de facto mein Chef, aber er ließ das — mal
abgesehen von seiner Bevormundung am Mittagstisch — nicht heraushängen und
sofern ihm nicht gerade jemand quer kam, war er ein großartiger Hospitalero.
Wir gingen kameradschaftlich miteinander um und hatten die Kompetenzen
sinnfällig aufgeteilt. Außerdem achtete Roland darauf, dass trotz Arbeit und
Stress Spaß und Vergnügen nicht zu kurz kamen. Gelegentlich fuhren wir übers
Land oder in die Städte in der näheren und weiteren Umgebung, aßen auswärts und
öffneten die Herberge dann halt etwas später. Mehrmals täglich schoben wir — jeder
für sich oder gemeinsam — eine Kaffee- oder Weinpause mit ausgiebigem Schwatz
an Begoñas Tresen ein und jeden Abend nahm ich mir eine Auszeit für einen
Spaziergang durch die Felder hinterm Dorf, diese wundervolle weite Landschaft,
die mir immer besser gefiel. Würde ich hier leben können, überlegte ich mir
dabei manchmal. Ein paar hundert Meter außerhalb von Azofra stand am Camino ein
kleines Bauernhaus zum Verkauf an. Um dieses niedliche Häuschen herum spann ich
gern Phantasien, stellte mir vor, dort ein Frühstückscafe einzurichten oder ein vegetarisches Restaurant...
Der
Bedarf an Gastlichkeit war schließlich groß am Jakobsweg. „Kochst du eigentlich
noch manchmal abends für die Pilger?“, fragte ich Roland irgendwann. Weil er
mich und meine Wandergefährten seinerzeit bewirtet hatte, glaubte ich, er täte
das regelmäßig und wunderte mich nun, dass es nicht der Fall war.
„Ich
würde sehr gerne hier öfters was kochen für die Leute in der Herberge“, meinte
Roland und zog eine bedauernde Grimasse. „Aber dann würde ich es mir mit Begoña
verderben, weil ich ihr Konkurrenz machte.“
„Und
was ist mit dem Frühstück? Damit machst du ihr doch auch Konkurrenz.“
„Nicht
unbedingt, denn das serviere ich meistens früher, als sie überhaupt aufmacht.“
Wenn
Pilger fragten, wo sie gut essen könnten, empfahl ihnen Roland grundsätzlich
die Bar Sevilla, obwohl es noch ein zweites Restaurant im Ort gab. Zunächst
dachte ich, das geschehe aus purer Sympathie für Begoña, bis ich erfuhr, dass
Roland sich mit Vega, der Besitzerin des anderen Lokals, schon vor längerem
überworfen hatte.
Laut
Roland hatte ihm Vega, als er die Herberge aufmachte, Provision angeboten, wenn
er seine Pilger zu ihr zum Essen schickte. So etwas ist in Spanien vielerorts
durchaus üblich. Doch er hatte Vegas Offerte mit einem derben Spruch abgelehnt
und sie damit anscheinend zutiefst beleidigt, denn seither ließ sie angeblich
keine Gelegenheit aus, gegen ihn zu sticheln.
Ob
sonst noch etwas vorgefallen war und woher das distanzierte Verhältnis zwischen
Vega und Begoña kam, erfuhr ich nicht. Begoña zuckte nur die Achseln, als ich
sie danach fragte: „Das ist halt so.“
Beide
Lokale lagen an dem großen Platz, wobei sich Vegas Restaurant im Souterrain
eines Hauses befand und man den halben Platz überqueren musste, um es zu
erreichen. Für das Betreten von Begoñas direkt am Camino gelegener Bar Sevilla
.hingegen genügte ein simpler ebenerdiger Einkehrschwung. Lag es an diesen
ungleichen Voraussetzungen, dass ein unsichtbarer Schützengraben zwischen
beiden Lokalen zu verlaufen schien? Führte das Geschäft, das mit Pilgern zu
machen war, unweigerlich zu Konkurrenzverhalten, Neid und Missgunst?
Einmal
hatte Vega versucht, ihren Standortnachteil auszugleichen, indem sie im Freien
vor ihrem Lokal Tische und Stühle aufstellte. Schon am Mittag desselben Tages
musste sie diese aber wieder entfernen.
Die
Plaza de España sei ein öffentlicher Platz und nicht
Teil eines Restaurants, hatte ihr der Bürgermeister, assistiert von
Ordnungskräften des Dorfes, unerbittlich erklärt.
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