Raum in der Herberge
den Camino mit älteren, die
ihre Mutter sein könnten, ältere Männer waren begleitet von jüngeren im
Sohnesalter. Dabei handelte es sich keineswegs um gleichgeschlechtliche Paare,
die Beziehung dieser Wandergefährten war vielmehr von einem
Eltern-Kind-Verhältnis geprägt.
„Ist
doch merkwürdig oder?“, sagte ich zu Anne und Alexandra, zwei allerdings
gleichaltrigen Pilgerinnen aus Ostdeutschland, nachdem ich ihnen meine
Beobachtungen geschildert hatte.
„Das
ist keineswegs merkwürdig“, erklärte Anne, die — wie sich herausstellte — Psychologin
war. „Schau, auf dem Camino kommen bei jedem, ob er will oder nicht, die Themen
hoch, die sein Leben bestimmen. Und die Eltern-Kind-Auseinandersetzung ist
schließlich eines der ganz großen Themen bei sehr vielen Menschen. Das
versuchen sie nun — quasi stellvertretend — mit Ersatzeltern oder Ersatzkindern
zu bearbeiten.“
„Der
Camino gibt jedem das, was er braucht“, zitierte ich eine der zahlreichen
Jakobsweg-Weisheiten, „selbst wenn man meint, genau das nicht zu
brauchen.“
Ich
erinnerte mich dabei an meine erste Begegnung mit David, ganz zu Anfang meines
Camino im Hof der Herberge von Hunto . Mit strahlendem
Lächeln war er auf mich zugekommen, wollte sich mit mir unterhalten und ich
dachte nur abwehrend: Dieser Blondschopf, der aussieht wie der Leadsänger einer
irischen Boygroup, ist jetzt wirklich das Letzte, was ich brauchen kann.
Tatsächlich
war er genau das, was ich brauchte — und umgekehrt. Als Einzelkind aufgewachsen
fand ich in ihm für die Dauer des Camino den Bruder, den ich mir immer
sehnlichst gewünscht hatte — und ihm, der seine zahlreichen Geschwister sehr
vermisste, ersetzte ich wenigstens eine seiner Schwestern. Wir wurden einander
so vertraut, als wären wir tatsächlich zusammen groß geworden, führten
Gespräche, die nur wir miteinander führen konnten, und da wir in vielerlei
Hinsicht sehr gegensätzlich waren, lernten wir eine Menge voneinander.
„Wenn
der Camino jedem gibt, was er braucht, dann ist es ja nicht weiter
verwunderlich, dass sich immer die richtigen finden“, meinte Anne und holte
mich damit wieder in die Gegenwart zurück.
Wir
führten unsere Unterhaltung in Begoñas Lokal, wohin wir geflüchtet waren, denn
in der Herberge war der Teufel los oder, um genau zu sein, die Großväter waren
los.
Gegen
Mittag hatte ein Spanier angerufen und darum gebeten, für ihn und seine
Mitpilger Betten frei zu halten. Sie seien überwiegend ältere Leute und machten
sich jetzt in Ventosa auf den Weg. Verblüffend schnell waren sie angekommen,
vier Abuelos , Spanier im
Großvater-Alter, mit einem jungen Argentinier und einem jungen US-Amerikaner
als Ersatz-Enkel im Schlepptau. Sie bezogen ihre Zimmer und begannen Unmengen
an Ausrüstung herein zu tragen: Töpfe, Pfannen, Weinflaschen, Kisten mit
Lebensmitteln — kein Wunder, dass sie so schnell angekommen waren, sie mussten
mindestens ein, eher zwei Begleitfahrzeuge dabei haben — und setzten an zum
Generalangriff auf die Küche. „Tut mir Leid, aber Sie können hier nicht
kochen“, ging Roland dazwischen. „Das ist unsere private Küche. Darin servieren
wir zwar morgens das Frühstück, aber sie ist nicht dafür ausgerüstet, dass die
Pilger hier kochen.“
„Wir
haben unsere eigene Ausrüstung dabei, das sehen Sie doch.“
„Trotzdem
können Sie hier nicht kochen, denn wenn Sie das tun, dann müssen wir das
anderen Pilgern ebenfalls gestatten und dafür ist die Küche definitiv zu klein.
‘
Um den streitlustigen Abuelos ,
die sich bereits für weitere Auseinandersetzungen formierten, entgegenzukommen,
arrangierte Roland in Windeseile mit Hilfe von Enrique eine Ausweichlösung.
Einer der Dorfbewohner hatte eine Art Schrebergarten mit Grillplatz, dort
konnte die Gruppe ihr Fleisch braten und gemütlich unter blühenden Bäumen
verzehren. Am Abend begann der Ärger aufs Neue. Roland und ich räumten gerade
unser Abendbrot-Geschirr zusammen, da stürmten die Großväter erneut die Küche
und ließen sich diesmal auf keine Diskussionen ein.
„Wir
kochen nicht, wir machen nur Salate — das wird ja wohl gehen. Wir sind echte
Pilger und bereiten deshalb immer unser Essen selbst zu.“
Nun
ist die Selbstverpflegung keineswegs eine notwendige Voraussetzung für echtes
Pilgertum — als wahre Jakobspilger gelten vielmehr gemeinhin diejenigen, die
den gesamten Camino aus eigener Muskelkraft bewältigen, sei es zu Fuß, Fahrrad
oder Pferd. Aber darüber
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