Raum in der Herberge
erst viel später klar.
Die
Bücher und Artikel, die ich vor meiner Pilgerreise las und danach erneut
durchsah, bestätigten unisono, dass der Camino ohne Zweifel etwas sehr
Spezielles habe, das weit über die Attraktivität anderer langer Wanderrouten
hinausgehe.
Dabei
wird ein wesentlicher Grund für die besondere Aura des Jakobsweges in seiner
Geschichtsträchtigkeit gesehen. Keltische Mythen umranken ihn ebenso wie
christliche Legenden. Die Ursprünge der Pilgerroute, die wir heute Camino
nennen, datieren Historiker auf vorchristliche Zeit, sie sind also sehr viel
älter als die Verehrung des Heiligen Jakobus. Schon in grauer Vorzeit zogen
Pilger nach Nordwestspanien und zwar bis nach Fisterra am äußersten westlichen
Ende Europas, dem „Finis terrae “, dem Ende der damals
bekannten Welt, um von dort als neue Menschen zurückzukehren — so wie später
die christlichen Wallfahrer, die ab Mitte des neunten Jahrhunderts zu dem auf
wundersame Weise entdeckten Grab des Apostels Jakobus in Santiago zu strömen
begannen.
Das
Bewusstsein, auf einem Weg zu gehen, den bereits seit uralten Zeiten Millionen
Pilger zurückgelegt haben, trägt ebenfalls viel zur Faszination des Camino bei.
Auch ich, die ich nicht katholisch bin und deren christlicher Glaube von
Vorstellungen anderer Religionen wie dem Buddhismus beeinflusst ist, fühlte
mich als Pilgerin auf dem Jakobsweg wie ein kleines Glied in einer unendlich
langen Kette.
Auf
dem Camino Teil von einem großen Ganzen zu sein, in einer uralten Tradition zu
stehen, reichte mir jedoch nicht aus als Erklärung dafür, dass zahllose Pilger
den Jakobsweg als geradezu mystische Erfahrung betrachteten.
In
einigen esoterischen Schriften, die ich zu Rate zog, war von geheimnisvollen
Energiebahnen unter, über oder auf dem Camino die Rede. Danach soll zum
Beispiel der Jakobsweg auf einer so genannten Gralslinie verlaufen und der Weg
nach Santiago im Grunde nichts anderes sein als die uralte Suche nach dem
Heiligen Gral, sei er nun in der tatsächlichen oder in der geistigen Welt.
Der
Camino folge einer Ley-Linie schreibt die amerikanische Filmschauspielerin
Shirley MacLaine, die den Jakobsweg Anfang der 90er Jahre gegangen ist, in
ihrem Buch über diese spirituelle Reise. Unter Ley-Linien verstehen Esoteriker
Kraftlinien oder Heilige Linien, welche die Erde wie ein Gitternetz überziehen
und uralte heilige Stätten miteinander verbinden sollen. Mit modernen
Wissenschaftsmethoden seien diese Ley-Linien nicht nachweisbar, heißt es, aber
sensitive Menschen könnten sehr wohl die Kraft dieser Linien spüren. Die
Energie von Ley-Linien erhöht angeblich die Schwingungsrate des menschlichen
Gehirns, wodurch ein höheres Bewusstsein entstehen soll und Informationen
auftauchen, die zuvor unterdrückt waren. Der Camino, schreibt Shirley MacLaine,
verlaufe direkt unter der Milchstraße und spiegele die
Energie dieses über ihm liegenden Sternensystems.
Nun
spielen Sterne in den Mythen um den Jakobsweg immer wieder eine große Rolle.
Ein Sternenregen soll zu Beginn des neunten Jahrhunderts einen Bischof zum
lange verschollenen Grab des Apostels Jakobus geführt haben. Der Stadtname
Santiago de Compostela zeugt von dieser Entdeckung auf einem „Sternenfeld“,
lateinisch Campus stellae . Karl dem Großen
sollen die funkelnden Sterne der Milchstraße im Traum den Weg nach Santiago
gewiesen haben. Darum wird der Camino auch „Sternenweg“ genannt. Obwohl ich von
dem alten Spruch überzeugt bin, wonach es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde
gibt, als unsere Schulweisheit sich träumen lässt, wusste ich nicht recht, was
ich von jenen esoterischen Theorien zum Camino halten sollte, fand sie etwas
abgehoben.
Für
plausibler hielt ich, was mir ein Arzt, der sich viel mit alternativen
Heilmethoden und energetischen Kräften, die Einfluss auf uns haben könnten,
beschäftigt hatte, zu möglichen seltsamen Phänomenen am Jakobsweg sagte.
„Gehen
befreit — im wahrsten Sinne des Wortes“, erläuterte er. „Während unsere
Wirbelsäule in unserem technisierten Alltag oft abgeknickt und verbogen wird,
kann sie nun locker schwingen. Das gibt ein befreites Gefühl und schärft
zugleich die Sinne und zwar nicht nur die üblichen fünf, sondern auch den so
genannten sechsten Sinn. Damit können wir Dinge wahrnehmen, die uns sonst
verborgen bleiben.“
Das
müsste allerdings auch auf andere lange Wege zutreffen und es scheint doch
gerade eine Besonderheit des Jakobsweges zu sein, dass
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