Raum in der Herberge
Ungewöhnliches zu
erleben dort beinahe alltäglich ist.
Ich
denke, das hat damit zu tun, wofür er angelegt wurde, denn alle Wege sind durch
ihren ursprünglichen Zweck geprägt. Ehemaligen Militärtrassen haftet, selbst
wenn sie längst zu schlichten Landstraßen umfunktioniert wurden, stets noch
etwas Martialisches an. Einstige Schmugglerpfade haben auch als einfache
Wanderrouten nach wie vor etwas Geheimnisvoll-Verschlagenes.
Der
Camino wurde als Pilgerweg angelegt, auf dem Menschen über ihr im Hier und Jetzt verhaftetes Selbst hinaus gehen sollen — ist es dann verwunderlich, wenn sie das auch tun?
Vielleicht
haben sich ja all die zahllosen Gebete und frommen Wünsche, die im Laufe der
Jahrhunderte auf diesem Weg gedacht oder gesprochen wurden, zu einer
spirituellen Energie verdichtet, die zwar mit unseren heutigen
wissenschaftlichen Verfahren nicht messbar ist, aber trotzdem existiert, und
der sich Pilger nur schwerlich entziehen können. Von vorchristlicher Zeit bis
heute war und ist der Camino stets zugleich eine äußere wie eine innere Reise,
ein „Weg der Erkenntnis“, wie der brasilianische Schriftsteller Paulo Coelho in
seinem berühmten Pilgertagebuch, das weltweit zum Bestseller wurde, schreibt.
Damit steht er allen Menschen offen, egal welchen Glauben sie haben oder ob sie
Atheisten sind.
Über
all diese Dinge, über die angebliche oder tatsächliche Magie des Weges, machte
ich mir jedoch herzlich wenig Gedanken, als ich an einem heißen August-Tag in
Saint-Jean-Pied-de-Port meinen Rucksack schulterte, um loszumarschieren, und
mir just in diesem Moment der Reporter eines deutschen Fernsehsenders sein
Mikrofon unter die Nase hielt. „Warum wollen Sie den Jakobsweg machen?“
„Na,
aus sportlichen Erwägungen“, antwortete ich leichthin, weil das zu jenem Zeitpunkt
durchaus im Wesentlichen meiner Motivation entsprach, „ich hab mir gedacht,
danach spielen Speckröllchen keine Rolle mehr für mich.“
Auf
den entgeisterten Blick des Reporters hin nahm ich mich zusammen und besann
mich, warum mich wenige Wochen zuvor ein Artikel über den Jakobsweg im
Reiseteil einer Zeitschrift derart angesprungen hatte. Darin war in der Tat
viel von sportlichem Anspruch und interessanter Routenführung die Rede gewesen,
doch Ähnliches hatte ich schon früher gelesen und deshalb stand ich nun nicht
hier in Saint-Jean. Ich hatte vielmehr das Gefühl gehabt, jetzt sei die
Zeit reif für mich, den Jakobsweg zu machen. Ich hatte Liebeskummer und war
unzufrieden mit meinem Leben, wollte Abstand gewinnen — doch all das mochte ich
dem Fernsehmann nicht sagen.
„Ich
sehe es als eine große Herausforderung, eine so lange Strecke zu Fuß zu gehen
und dabei ein Land auf eine Art kennen zu lernen, zu der man sonst gar nicht
die Möglichkeit hat“, formulierte ich deshalb lahm und langweilig. Dem Reporter
war das als Motivation zu mager für seinen Kirchenfunkbericht über die Mühsale
des Jakobsweges. Darin kamen später nur Menschen zu Wort, die den Camino aus
einer schweren Lebenskrise heraus angetreten hatten. Dabei sind die Gründe,
sich auf den Jakobsweg zu begeben, heutzutage wirklich oft eher banal —
sportlicher Ehrgeiz, Abenteuerlust, sich etwas beweisen wollen, allgemeiner
Frust — während es in alter Zeit vornehmlich aus religiöser Motivation heraus
geschah. Den Reliquien des Heiligen Jakobus wurden übernatürliche Kräfte
zugeschrieben und die Menschen damals erhofften sich die Heilung von Leib und
Seele als Lohn für die strapaziöse Pilgerreise zum Apostelgrab. Heute gilt für
viele eher der Spruch: Der Weg ist das Ziel.
Wie
auch immer — ich ging los und nach ein paar Tagen begannen sie, ihre Wirkung zu
tun, diese seltsamen Kräfte am Camino, Magie oder was immer es sein mochte, und
zwar ohne dass ich es zunächst recht merkte.
Ich
war noch keine Woche unterwegs, da stellte ich auf einmal fest, dass es egal
war, ob ich problemlos in der Lage war, 30 Kilometer am Tag zu wandern oder
nicht, ich musste mir nichts mehr beweisen und meine Speckröllchen spielten
tatsächlich keine Rolle mehr, allerdings aus ganz anderen Gründen. Vieles, was
ich Zuhause für wichtig gehalten hatte, war nicht mehr relevant, meine
Perspektiven verschoben sich. Der Jakobsweg war dabei, von einer sportlichen
Herausforderung zu einer spirituellen Erfahrung zu werden — von anderen Pilgern
weiß ich, dass es ihnen ähnlich erging.
Ich
begann, den Camino als ein Geschenk zu betrachten, das ich mir selber machte,
und
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