Raum in der Herberge
Pilger, die den Weg deshalb barfuß gehen.
Zu
wahrer Höchstform in Sachen Gastfreundschaft liefen Alfredo und ich auf, als
mitten im Juni der Winter zurückkehrte. Es hatte schon eine Weile geregnet,
aber dann wurde es immer kälter und was im Tal als Regen fiel, kam im Gebirge
als Schnee herunter. Dazu wehte ein eisiger Wind. Nass und durchgefroren bis
auf die Knochen liefen die Pilger in der Herberge ein, nur die wenigsten waren
für diesen Temperatursturz ausgerüstet. Ich übrigens auch nicht und ich dankte
im Stillen der unbekannten Pilgerin, deren warmen Fleece-Pulli ich in der Kiste
mit den vergessenen Gegenständen fand. Damit rettete ich mich über die kalten
Tage.
„Ein
merkwürdiges Jahr ist das heuer“, sagte Alfredo. „Ich kann mich nicht erinnern,
wann es das letzte Mal im Juni dermaßen kalt war.“
„Wir
sollten den Pilgern etwas Heißes zu trinken geben, wenn sie ankommen“, schlug
ich vor.
Alfredo
war sofort einverstanden. „Aber sicher. Was brauchst du?“
Tee,
Milch, Zucker und Kekse wurden gekauft und jeder Pilger, der zähneklappernd
durch die Herbergstür trat, bekam als erstes eine dampfende Tasse in die Hand
gedrückt. Genauso wie die Fahrradfahrer, die wir zwar vor dem Abend nicht
aufnehmen durften, die sich aber aufwärmen und, wenn sie wollten, heiß duschen
konnten, bevor sie sich auf das letzte Wegstück nach Ponferrada machten. Die
Herberge dort war sehr groß und nahm Radler deshalb ohne Einschränkungen auf.
Während
der eisigen Tage kam Alfredo nachmittags früher als sonst, brachte Holz und
zündete den Kamin an. Wenn das Feuer prasselte, wurde es richtig gemütlich in
der Herberge. Wir saßen eng aneinander um den Kamin, starrten in die lodernden
Flammen und aus der körperlichen Nähe erwuchs schnell große Zutraulichkeit.
Gespräche entwickelten sich quasi von selbst.
Während
dieser kalten Nächte schlief ich übrigens wesentlich besser als sonst und das
lang nicht nur daran, dass die Pilger wegen des schlechten Wetters morgens
später aufbrachen. Der klatschende Regen und heulende Wind draußen schufen
drinnen eine Art Bärenhöhlen-Atmosphäre, Schutz und Geborgenheit vor den
Elementen — da machte es auch nichts, wenn einige der Bären schnarchten.
Durch
das verkrampfte Gehen in Kälte und Wind hatten mehr Pilger als sonst Probleme
mit Muskeln und Sehnen. Oft bis zehn, elf Uhr abends musste Alfredo
entsprechende Massagen verabreichen, wobei er den letzten Patienten genauso
geduldig und sorgfältig behandelte wie den ersten. Die Ausweichquartiere in den
Zelten draußen konnten während des eisigen Wetters natürlich nicht genutzt
werden, also hieß es, drinnen enger zusammen zu rücken, was allerdings nicht
unbegrenzt möglich war — irgendwann gab es beim besten Willen keinen Raum in
der Herberge mehr. Oft hängte ich mich abends ans Telefon, um für
Spätankömmlinge ein Taxi nach Ponferrada zu bestellen oder, wenn sie das
wollten, Zimmer in einer Casa Rural in Molina. Einige der solchermaßen
Untergebrachten klopften morgens noch mal an die Herbergstüre.
„Wir
wollten nur sagen, die Zimmer waren gut und das Frühstück auch. Danke nochmals,
dass du das für uns arrangiert hast.“ So was freut dann doch. Auch im Gästebuch
bekamen wir in jener Zeit geradezu hymnische Kritiken.
„Obwohl
alles voll war, wurde in diesem einzigartigen Refugio noch Platz für uns
geschaffen, dafür danken wir Gott und den Hospitaleros“, schrieb ein
brasilianisches Ehepaar, das wir zusammen auf einer Matratze unter der Treppe
untergebracht hatten.
„Diese
Herberge war eine Wohltat nach dem Wetter gestern. Ein so herzlicher Empfang
ließ meine Unentschlossenheit, ob ich überhaupt weitergehen oder den Camino
sofort abbrechen sollte, vergehen — und ich bin dankbar dafür“, hieß es seitens
einer deutschen Pilgerin. Sie war besonders übellaunig angekommen und brauchte
mehr als eine Tasse Tee, viele Kekse und guten Zuspruch, um ihren Frust
abzuschütteln. „Elisabeth, du gibst dieser Albergue deine ganz persönliche,
gute Wärme“, würdigte mich ein Robert aus Wien im Gästebuch.
Damit
ich bei so viel Lob nicht überschnappte und mich irgendwann mit
Hospitalera-Heiligenschein im Spiegel sah, bekam ich einige Tage später einen
Dämpfer.
„Sind
hier keine Pfannen?“, fragte eine junge Australierin missmutig, nachdem sie den
Küchenschrank durchforstet hatte.
„Nein,
die haben wir nicht“, sagte ich. Wohlweislich gab es keine Pfannen in dieser
Albergue, in
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