Raum in der Herberge
ausgeliehen, fuhr mit
Schwager Michel hinaus. Die Herberge lag am Eingang des Dorfes direkt neben dem
Camino. Sie war in einem ehemaligen bäuerlichen Anwesen eingerichtet worden, im
Erdgeschoss befand sich ein großer Ess- und Aufenthaltsraum mit offenem Kamin
und einer Cafeteria-Theke. Oben gab es einen großen Schlafsaal, dazu einige kleine
Mehrbettzimmer — und einen separaten Raum für die Hospitalera — beneidenswert.
Ansonsten brauchte ich Margit allerdings nicht zu beneiden, denn es gab in
dieser Albergue ungeheuer viel zu tun. Neben den üblichen Hospitalera-Arbeiten
war hier zusätzlich die Cafeteria zu betreuen, in der viele Pilger gern eine
Marschpause einlegten, um sich mit Café con leche, Milchkaffee, belegten
Broten, Salat oder Omelett für den Weiterweg zu stärken. Michel stand in der
Küche, wir hinterm Tresen und bedienten, nahmen nebenbei noch die Daten
derjenigen Pilger, die bleiben wollten, auf und wiesen sie in ihre Zimmer ein.
Margit,
eine hübsche Brünette in den Zwanzigern, ließ sich von alledem aber nicht
stressen. Sie nahm sich die Zeit, auch mal länger mit Pilgern zu plaudern, wenn
ihr das angebracht schien, schuf mit ihrer Freundlichkeit und Ruhe eine
angenehme Atmosphäre um sich herum.
Am
Spätnachmittag reisten Christina und Schwester Michel an — zur „Fütterung der
Raubtiere“. Jeden Abend kochte Schwager Michel für die Pilger ein Menü, wir
anderen deckten den Tisch, servierten, räumten hinterher alles wieder auf.
Während rund dreißig Pilger an der langen Tafel saßen und aßen und dabei alle
irgendwie mit ihren Tischnachbarn ins Gespräch kamen, hatten Margit und ich
endlich Zeit zum Verschnaufen. Schwager Michel hatte uns eine besonders gute
Flasche Rotwein zugesteckt, die genehmigten wir uns jetzt. „Auf uns freiwillige
Hospitaleras und Hospitaleros“, hob Margit ihr Glas, „ohne uns würde auf dem
Camino eine ganze Menge nicht funktionieren.“
„Ich
finde es toll, wie du das hier machst“, prostete ich zurück, „mit der Cafeteria
hast du zusätzlich noch den ganzen Durchgangsverkehr zu betreuen. Trotzdem
schaffst du es, auf jeden einzugehen.“
„Man
kriegt unheimlich viel zurück“, sagte Margit versonnen. „Deshalb macht man dann
auch gerne weiter. Oft denke ich, ich bekomme mehr zurück, als ich gebe. Da
kriegt man manchmal richtig Tränen in die Augen.“
Ich
nickte und dachte an einen Vortrag des Dalai Lama, den ich vor längerer Zeit
gehört hatte. „Wenn ihr schon selbstsüchtig sein wollt, dann seid es auf weise Art“, hatte der Dalai Lama gesagt und erläutert, dass man, wenn man sich um
andere mit liebevoller Hinwendung kümmere, dadurch sehr viel mehr Glück
erlangen würde, als man es je erfahren habe.
Wer
also den (selbstsüchtigen) Wunsch habe, so glücklich wie möglich zu sein, müsse
sich mit ganzem Herzen dem Wohlergehen von anderen widmen.
Na,
na, da übertreibt er aber, hatte ich damals gedacht. Inzwischen wusste ich,
dass Skepsis gegenüber der Weisheit des Dalai Lama völlig fehl am Platz ist,
schließlich erfuhr ich das, was er theoretisch erläutert hatte, hier nun
tagtäglich in meiner praktischen Arbeit.
„Warum
bist du eigentlich Hospitalera?“, wurde ich gelegentlich gefragt. Vielleicht
sollte ich, anstatt etwas von „den Camino von anderer Warte aus kennen lernen“
zu faseln, künftig antworten: „Aus Selbstsucht.“ Aber das würde vermutlich kaum
jemand verstehen und außerdem wäre es mir ziemlich schwer gefallen zu erklären,
warum es mir einfach ungeheuren Spaß machte, mich um alle zu kümmern. Ich
verstand das ja selbst kaum.
Der
Mangel an Privatsphäre in der Herberge von Molina hatte bei mir etwas
Merkwürdiges bewirkt. Da ich mich nicht zurückziehen, nichts hinter mir zumachen konnte, begann ich, mich immer mehr zu öffnen — in
einem Maße, wie ich es nicht für möglich gehalten hätte.
Zwar
sah ich mich generell als freundlichen, umgänglichen Menschen, aber Zuhause in
Deutschland wahrte ich stets einen gewissen Abstand. Das hing unter anderem
wohl mit meinem Beruf zusammen; Journalisten sollten zu den Menschen und
Fakten, über die sie berichteten, grundsätzlich nicht die innere Distanz
verlieren, um objektiv bleiben zu können. Obwohl jeder ehrliche Journalist sich
irgendwann eingestehen muss, dass es keine absolute Objektivität gibt, dass
jede Betrachtung stets subjektiv gefärbt ist.
Hier
nun aber wahrte ich keinerlei Distanz, hielt keinen Abstand, ging aus mir
heraus und auf andere
Weitere Kostenlose Bücher