Raum in der Herberge
Camino gehen, um mich zu beruhigen, mich dann zur Landstraße
durchschlagen und weiter trampen.
Doch weil der Camino jedem das
gibt, was er braucht, kam es anders.
Kurz hinter Azofra holte ich
einen ziemlich schwergewichtigen Pilger mit weißer Lockenmähne ein. Der
Wanderführer, der aus seiner Hosentasche ragte, identifizierte ihn als
Deutschen, also sprach ich ihn an.
Matthias stammte aus Bayern und
ging sehr langsam — kein Wunder bei seinen vielen Kilos — und schon nach
wenigen Worten, die wir gewechselt hatten, spürte ich, dass es gut sein würde,
mit ihm nach Santo Domingo de la Calzada zu wandern, anstatt zu trampen. Wir
brauchten fünf Stunden für diese Strecke, die ich allein ohne Pausen in knapp
dreien geschafft hätte, aber es war genau richtig, mir diese Zeit mit ihm zu
nehmen.
Während wir gemächlich durch
die sonnenglühende Landschaft wanderten, uns gelegentlich unter einen Baum
setzten und Wasser, Obst und Nüsse teilten, sprachen Matthias und ich darüber,
was uns hierher gebracht hatte. Gegen den Widerstand von Familie, Freunden und
seinem Arzt hatte er sich auf den Camino begeben.
„Ich spürte einfach, dass es jetzt Zeit für mich ist, den Jakobsweg zu gehen“, sagte er, wie ich es schon
unzählige Male gehört hatte.
Ich erzählte ihm, dass es mir
vor einem Jahr genauso ergangen sei und dass die unsichtbaren Fäden, die mich
damals als Pilgerin zum Camino zogen, mich jetzt als Hospitalera zurückgebracht
hätten.
Matthias war ein Mensch mit
großem spirituellem Wissen und es machte Freude, mit ihm über die Magie des
Camino und die sonstigen magischen Kräfte, die unser Leben beeinflussen, zu
philosophieren. Außerdem war er in seiner ruhigen, humorvollen Art genau der
Richtige, um mich von meinem Azofra-Frust herunterzuholen. Am Ende betrachtete
ich den Weg nach Santo Domingo auch ein wenig als Bußwallfahrt für meine
Überheblichkeit, hatte ich mir doch eingebildet gehabt, mich könnten Rolands
Ausraster niemals treffen, weil ich so nett und tüchtig war.
Matthias wollte in Santo
Domingo bleiben, ich weiter nach Grañón. Wir gingen zusammen noch ein Bier
trinken und er schenkte mir zum Abschied einen kleinen Elefanten aus weißem
Achat.
„Man sagt, wenn sie den Rüssel
erhoben haben, bringen sie Glück“, schmunzelte er dazu.
Wie lieb von ihm, mir einen
Glückselefanten zu schenken — und wie einfühlsam. Ich hatte ihm nur wenig von
meiner Lebenssituation in Deutschland erzählt, dennoch hatte Matthias gespürt,
dass ich momentan ein bisschen Glück ganz gut brauchen könnte.
Für die letzten Kilometer nach
Grañón nahm ich in Anbetracht meines schweren Rucksacks unpilgergemäß ein Taxi. Ich wollte an diesem Abend in jener Albergue übernachten, wo Pater
José Ignacio seine Cursillos für Hospitaleros
abhielt, auf meiner Pilgerreise war ich seinerzeit dort nicht abgestiegen.
Grañón gilt als eine der sehr besonderen Herbergen des Camino. Ihre
Räumlichkeiten sind im Turm der Dorfkirche und über den Gewölben des
Kirchenschiffs eingerichtet worden, architektonisch recht verworren, kein
Pilger, der sich hier nicht mindestens einmal verläuft. Vor allem aber wird in
dieser Herberge jeder ohne Einschränkung aufgenommen, keiner nach dem
Pilgerausweis gefragt, ebenso wenig nach einer Übernachtungsgebühr.
„Gib, was du kannst, nimm, was
du brauchst.“ steht auf einer Geldschatulle im Flur und seltsamerweise ist
darin immer genug, um abends ein gemeinschaftliches Mahl für alle zu kochen.
Wer will, kann dazu Weiteres beisteuern, Wein, Obst oder Kekse als Dessert.
Wir saßen alle um die
improvisierten langen Tische, gut drei Dutzend Pilger, die Hospitaleros, Pater
José Ignacio und es herrschte eine überaus angenehme, heiter-besinnliche
Atmosphäre. Vorher hatten wir — freiwillig zwar, aber dennoch fast ausnahmslos
alle — die Messe besucht und der Pater hatte sich als hervorragender Prediger
erwiesen. Zudem war er ein charmanter und gut aussehender Mann, kein Wunder,
dass der Camino-Tratsch sich immer wieder scheinheilig um des Paters Keuschheit
sorgte.
Roland hatte über Grañón stets
etwas abwertend gesprochen, Pilgern davon abgeraten, dort zu übernachten, weil
es immer viel zu voll sei, und behauptet, die Herberge könne nur deshalb so
großzügig sein, weil sie Unterstützung vom Ausland bekäme.
Na und? dachte ich, während ich
nun von dieser angeblichen oder tatsächlichen Unterstützung profitierte.
Letztlich spielt das doch gar keine Rolle. Wichtig
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