Raum in der Herberge
es.
„Kannst du nicht lesen?“
herrschte Roland den jungen Spanier an, der vor der Tür stand. „Hier steht, wir
machen erst um drei Uhr auf.“
„Entschuldigung, das hab ich
übersehen. Könnte ich vielleicht trotzdem schon in die Herberge und mich
hinlegen, ich habe einen schlimmen Fuß“, sagte der junge Mann höflich und
deutete auf seinen geschwollenen Knöchel. „Erst um drei“, beschied Roland
kategorisch.
Unangenehm berührt, wie barsch
er mit dem Jungen umsprang, klinkte ich mich ein. „Wir sind noch nicht mit
allem fertig, gib uns eine halbe Stunde. Wenn du magst, kannst du deinen
Rucksack hier lassen und was essen gehen.“
„Schon in Ordnung“, winkte der
Junge ab und humpelte Richtung Bar Sevilla.
Später, während Roland Siesta
hielt, kam er noch mal vorbei, um mir mitzuteilen, dass er in der anderen
Herberge schlafe. „Und ich wollte dir auch sagen, dass mich auf dem ganzen Weg
noch kein Hospitalero so mies behandelt hat wie der Typ vorhin.“
Das tat mir in der Seele weh,
schließlich wusste ich um Rolands viele guten Seiten, versuchte, ihn in Schutz
zu nehmen. „Er ist kein übler Kerl, denn sonst würde ich hier nicht arbeiten.
Er hatte nur furchtbar viel Stress und Ärger in der letzten Zeit und du hattest
das Pech, einen schlechten Tag bei ihm zu erwischen.“
„Schlechter Tag“, meinte der
Junge zweifelnd. „Na ja, du brauchst dir den Schuh jedenfalls nicht anzuziehen.
Du warst freundlich zu mir, deshalb bin ich auch noch mal gekommen, um dir zu
sagen, dass ich woanders wohne.“ Ich zuckte die Schultern, wir lächelten uns
ein wenig ratlos zu, dann zog er ab. Die Herberge blieb an diesem Tag
vollkommen leer, obwohl der Ort voller Pilger war. Vermutlich hatte sich
Rolands Auftritt herumgesprochen.
„Warst du nicht ein bisschen
hart heute Mittag mit dem armen Jungen“, suchte ich das Thema abends vorsichtig
noch mal anzuschneiden, „er kam später noch mal vorbei, um mir zu sagen, dass
er in der Pfarrherberge wohnt. Und er beklagte sich darüber, wie rüde du zu ihm
warst.“
„Was — und du hast ihm nicht
Bescheid gegeben?“, ereiferte sich Roland. „Da versucht der Kerl auch noch
einen Keil zwischen uns zu treiben!“
Darauf sagte ich besser nichts
mehr.
Die nächsten Tage schien der
Camino nahezu ausgestorben, in der Bar Sevilla, wo sonst von morgens bis abends
Pilger Rast machten, herrschte gähnende Leere.
„Was für ein merkwürdiges
Jahr“, meinte Begoña zu Roland und mir. „Im Mai waren so viele Pilger unterwegs
und jetzt im Juli so wenige. Dabei ist jetzt eigentlich Hochsaison.“ Ich rief
in Mansilla an. Dort war die Herberge jeden Tag voll. Vermutlich verlief die
Pilgerwanderung in Wellen und wir erlebten hier gerade ein Wellental.
Weil ich nichts zu tun hatte,
wanderte ich viel, besuchte die Klöster abseits des Camino. Das war zwar alles
gut und schön, aber ich war nicht gekommen, um Ferien in Azofra zu machen,
sondern um als Hospitalera zu arbeiten.
„Wenn es weiterhin ruhig hier
bleibt, fahre ich schon früher nach Mansilla“, kündigte ich Roland an.
„Wart erst noch mal ab“, meinte
der.
Tags darauf schien das
Wellental zu Ende, es kamen wieder Pilger, die Herberge füllte sich — mit
lauter netten Leuten wie ich fand, darunter eine Spanierin, Lourdes, die selbst
Hospitalera gewesen war. Für Roland war das jedoch ein Grund, sie nicht zu
mögen.
Er regte sich über alles auf,
was sie tat und mir machte er zu meiner Verblüffung heftige Vorwürfe, weil ich
zugelassen hatte, dass sie einer anderen Pilgerin die Blasen verarztete. Was
sie übrigens sehr professionell machte — vermutlich war genau das Roland ein
Dorn im Auge, wurde er damit doch um die Chance gebracht, selbst den
Blasen-Experten zu geben. Abends in der Küche versuchte er, Streit mit ihr
anzuzetteln.
„Für das Geld, was du für die
Brotzeit da bezahlt hast, hättest du im Restaurant was Anständiges essen
können“, hielt er ihr vor. Ihren Einwand, es ginge nicht ums Geld, sondern
darum, sich selbst etwas zuzubereiten, tat er mit einem Verweis auf den
unglaublichen Geiz vieler Pilger ab. Lourdes nahm das gelassen, mir war es
peinlich und um das Gespräch in ein anderes Fahrwasser zu bringen, fragte ich
sie, wie es ihr in der Abendmesse gefallen habe. Das hätte ich lieber bleiben
lassen, denn Roland nahm diese Vorlage, um über die Kirche als solche und
verschiedene Priester, die er kannte oder zu kennen meinte, herzuziehen.
Lourdes hielt freundlich, aber bestimmt
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