Raum in der Herberge
lesbaren Zustand — eine verdienstvolle Aufgabe, um die wir anderen uns
gern drückten.
Als vierte im Team stand ich
altersmäßig zwischen Wolf und Laura, in der Hierarchie sah ich mich eher auf
einer Stufe mit Rebeca, denn sie war die Jüngste und
ich nur für begrenzte Zeit da. Gemeinsam hielten wir uns zurück, wenn Laura und
Wolf organisatorische Probleme diskutierten, als hätten wir uns stillschweigend
geeinigt, dass die beiden die Vor- und wir quasi die Zuarbeiter seien.
Schließlich nahm Laura nicht nur als hauptamtliche Hospitalera und Wolf auf
Grund seines Alters einen anderen Status ein. Als Spezialisten für die
Behandlung von körperlichen Problemen waren beide außerdem begehrte
Ansprechpartner der Pilger, wobei Laura für Blasen, Wolf für Muskelprobleme und
Sehnenentzündungen zuständig war. Eher zufällig hatte er vor Jahren entdeckt,
dass er mittels Handauflegen heilen konnte.
„Als Elektriker hab ich
seinerzeit wohl so viel Strom abbekommen, dass ich den jetzt als Energie wieder
abgeben kann“, meinte er halb scherzhaft, halb ernst zu seiner Fähigkeit.
Sehnenentzündungen im Anfangsstadium konnte er ohne weiteres kurieren,
Muskelverspannungen ebenso — und dabei löste er gelegentlich zugleich manch
andere Blockade. Einmal fing eine ältere Pilgerin,
nachdem Wolf ihr ein paar Minuten lang die Hände auf die schmerzende Wade
gelegt hatte, zu weinen an. Sie schluchzte nicht, die Tränen strömten einfach
aus ihr heraus, ohne dass sie sie zurückhalten konnte.
„Ich weiß selbst nicht, was mit
mir los ist“, schniefte sie verlegen.
„Das ist ganz normal, das
passiert oft“, sagte Laura begütigend und reichte der Frau ein Taschentuch.
„Lassen Sie’s einfach raus.“
Wir erfuhren in diesem Falle
nicht, was sich diese Pilgerin von der Seele weinte —
aber es war ihr anzumerken, wie gut es ihr tat.
Oft fungierte Wolf, wenn er
sich um verkrampfte Muskeln und Sehnen kümmerte, zugleich als geduldiger und
verschwiegener Beichtvater und Laura bekam ebenfalls allerhand Geschichten zu
hören, während sie Blasen verarztete. „Warum bringst du dich eigentlich nicht
mehr ein?“, fragte sie mich eines Nachmittags, als wir im Empfangsbüro saßen
und es gerade ruhig war. „Du hättest doch so viel zu geben, warum gehst du
nicht mehr auf die Pilger zu?“
Ja warum nicht? Vielleicht,
weil das jetzt einfach nicht für mich angesagt war. In Azofra war ich Zuhörerin
für jeden, der das wollte, gewesen. In Molinaseca hatte ich mich nahezu rund um
die Uhr um alle gekümmert, Herzlichkeit verströmt wie ein endloser Quell und
mich dabei vermutlich ein bisschen verausgabt. Insofern war es mir sehr recht,
dass ich mich hier nun etwas zurücknehmen konnte. Das versuchte ich, Laura zu
erklären und fügte hinzu: „Außerdem seid ihr, Wolf und du, ohnehin als die
Spezialisten für Blasen und Muskeln hier die Stars und wir beiden anderen
stehen in der zweiten Reihe.“
„Genau“, nickte Rebeca, die wie
üblich erst einmal genau zugehört hatte, bevor sie ihren Kommentar abgab, „das
ist wie im Sport, da muss es auch eine zweite Reihe geben.“
„Und das stört mich überhaupt
gar nicht“, betonte ich, „im Gegenteil — es gefällt mir, hier mehr zu
beobachten als zu agieren und übrigens Laura, ob du’s glaubst oder nicht — ich
hab durchaus meine Fans.“
Laura lachte. „Stimmt schon.
Einer davon sitzt in der Küche und schielt dauernd hierher. Du solltest mal zu
ihm gehen.“
Das tat ich und unterhielt mich
eine ganze Weile angeregt mit meinem „Fan“, einem netten Franzosen in meinem
Alter, ein wenig alternativ gekleidet mit indischem Wams und besticktem Käppi.
Er hatte einmal eine Zeitlang in einem indischen Ashram gelebt und dabei drei Wochen Schweigeexerzitien gemacht. Den Camino betrachtete
er als eine weitere spirituelle Übung.
„Langes Gehen löst besondere
Schwingungen aus“, sagte er und bestätigte damit meine eigenen Erfahrungen und
das, was mein alternativer Arzt dazu ausgeführt hatte. „Dadurch wird man offen,
alle fünf Sinne voll zu nutzen — und den sechsten und siebten dazu.“
Auch wenn es während meiner
Stippvisite in Azofra zunächst anders ausgesehen hatte — es herrschte
tatsächlich Hochsaison auf dem Camino. Fast jeden Tag war Mansillas Herberge bis auf den letzten Platz belegt und meist füllte sie sich, kaum dass
wir die Türe aufgeschlossen hatten.
Oft rief Wolf bereits gegen
vierzehn Uhr in Reliegos an, einem Dorf rund sechs Kilometer vor
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