Raum in der Herberge
Mansilla,
damit dort in Herberge und Kneipe Zettel ausgehangen würden: Mansilla completo — Mansilla voll belegt. Das nützte allerdings
wenig, die meisten Pilger gingen trotzdem weiter, weil sie sich in den Kopf
gesetzt hatten, in Mansilla zu übernachten und reagierten teilweise empört,
wenn es dort keinen Platz mehr für sie gab. Überhaupt gab es häufig unangenehme
Diskussionen mit Pilgern, die einfach nicht glauben wollten, dass sie nicht
mehr unterkämen und es erstmal ablehnten, in eines
der Leihzelte auf dem Campingplatz auszuweichen. „Warum können wir nicht im
Patio schlafen? Wir haben Matten dabei.“
In einem der Vorjahre hatten
Laura und Wolf sich breitschlagen lassen und rund einem Dutzend Pilger
gestattet, im Hof zu übernachten, was das ältliche Abwasserrohrsystem nicht
verkraftete. Am nächsten Morgen war die Kanalisation übergelaufen und für die
Beseitigung der unappetitlichen Folgen musste die Herberge mehrere Tage
geschlossen werden. Das sollte sich nicht wiederholen.
Allerdings hatten Wolf und
Laura die Parole ausgegeben, die offiziellen Regeln für die Belegung nicht
starr, sondern den Umständen angepasst zu handhaben.
Oder hätten wir etwa den Vater
mit seinem behinderten Sohn weiterschicken sollen, weil sie als Radfahrer früh
am Nachmittag eigentlich noch nicht aufgenommen werden durften?
Selbstverständlich taten wir das nicht, sondern erlaubten ihnen zu bleiben.
Später erfuhren wir die kleine bewegende Geschichte der beiden. Der Sohn,
inzwischen siebzehn Jahre alt, hatte während seiner Geburt zu wenig Sauerstoff
bekommen und einen leichten cerebralen Schaden
erlitten, mit dem er aber tapfer umzugehen versuchte. Radfahren konnte er, und
so hatte ihn sein Vater mit auf den Camino genommen.
„Sie glauben gar nicht, wie gut
diese Pilgerreise dem Jungen tut“, erzählte uns der Vater, „er bekommt so viel
Selbstvertrauen dadurch, ist unglaublich stolz, dass er das schafft.“ Generell
durften Radfahrer bleiben, egal wie früh sie ankamen, wenn sie bereits eine
Tagesetappe von über 100 Kilometern hinter sich hatten.
„Denen muss man die neunzehn
Kilometer nach León nicht auch noch zumuten“, erklärte Wolf, „wer weniger hat, muss
allerdings weiterfahren, wenn es noch nicht Abend ist.“ Obwohl diese Regelung
vernünftig war, wollten manche Radler sie partout nicht einsehen, warfen uns
vor, Fahrradfahrer als Pilger zweiter Klasse zu behandeln. Insgesamt schien der
Umgangston wesentlich rauer geworden zu sein, als ich es von meinen bisherigen
Einsatzorten gewohnt war.
„Das stimmt“, bestätigte Wolf
meine Vermutung, „und das kommt daher, weil jetzt so viele Touristen auf dem
Camino unterwegs sind.“
Auf meiner eigenen Pilgerreise
war ich viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt gewesen, als dass es mir
aufgefallen wäre — aber in der Hochsaison ist der Camino tatsächlich neben dem
Wallfahrtsweg zugleich eine äußerst beliebte Touristenroute, wobei die Grenze
zwischen Pilgern und Touristen oft fließend ist.
Nachdem er lange Zeit fast
vergessen schien, wurde der Jakobsweg in den letzten zehn, fünfzehn Jahren
wieder zunehmend bekannter und ist inzwischen geradezu in Mode gekommen. Es
gilt vielfach als zünftig, chic, cool oder was auch immer, ein paar Tage auf
dem Camino zu gehen, mal reinzuschnuppern in die Pilgerei. Dagegen wäre
eigentlich nichts einzuwenden, würden diese Camino-Touristen nicht denjenigen,
welche die gesamte 750 Kilometer lange Route auf sich nehmen, die Plätze in den
Herbergen streitig machen. Daneben gibt es gerade in der Hochsaison zahlreiche Peregrinos , Pilger, die Wolf scherzhaft Perebuses nannte, weil sie nur die „Sahnestückchen“
des Camino gehen und für schwierige oder monotone Etappen, oder wenn es regnet,
den Bus nehmen. Um die begehrte Compostela zu erhalten, die Urkunde der
Kathedrale von Santiago, welche die Vollendung der Pilgerreise bestätigt,
reicht es ohnehin, nur die letzten 100 Kilometer zu Fuß beziehungsweise die
letzten 200 per Rad zurückzulegen. Diese offizielle Regelung machen sich die so
genannten Perebuses zunutze.
„Und wie ist das in deinem
Leben sonst?“, pflegte Wolf sie zu fragen. „Nimmst du dann auch jedesmal , wenn es unangenehm wird, den Bus?“
Damit löste er manch
nachdenkliches Gespräch aus.
In Azofra, wo Roland seine
eigenen Regeln gelten ließ, hatte sich das Problem, zwischen tatsächlichen und
vermeintlichen Pilgern zu unterscheiden, für mich gar nicht gestellt — in
Molinaseca,
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