Raum in der Herberge
das per Bus nicht zu erreichen war, auch nicht. Nun sah ich mit Bewunderung,
dass Wolf und Laura es geradezu „rochen“, wenn es sich bei Neuankömmlingen um
Touristen handelte.
Der Pilgerausweis war dabei
übrigens wenig hilfreich, denn den gibt es in Spanien in fast allen Herbergen
ohne Nachfrage, während man in Deutschland ein Empfehlungsschreiben braucht, um
sich das Papier vorab von einer Jakobusgesellschaft ausstellen zu lassen.
Mit der Zeit lernte ich
ebenfalls, einige Unterscheidungsmerkmale zu erkennen. Pochte beispielsweise
jemand besonders nachdrücklich und lautstark darauf, ein „echter“ Pilger zu
sein, war Vorsicht geboten, meist war er es nämlich nicht. Während sich Pilger
im Allgemeinen bescheiden oder unauffällig gaben, traten Camino-Touristen gern
fordernd auf, was bis zur Unverschämtheit gehen konnte. Ein abschreckendes
Beispiel dafür erlebte ich gleich an einem meiner ersten Tage in Mansilla.
Auf dem Weg vom Einkaufen
zurück sah ich an jenem Mittag eine Gruppe von Männern und Frauen mittleren
Alters vor einer Kneipe in der Sonne sitzen und Bier trinken. Sie trugen
Wanderkleidung und hatten Rucksäcke neben sich, wirkten aber erstaunlich frisch
und proper.
Mir denen wird es Ärger geben,
dachte ich, ohne zu wissen, warum.
Es dauerte nicht lange, da
tauchte die Gruppe in der Herberge auf, nun auf einmal seltsam verschwitzt —
etwa von dem kurzen Weg vom Lokal hierher? — und legte ihre Credenciales zum Abstempeln vor. Bleiben wollten die Herrschaften zwar angeblich nicht,
trotzdem inspizierten sie alles genauestens, trampelten treppauf, treppab und
beschwerten sich lautstark, dass kein Raum mehr für sie ganz allein frei sei.
„Aber Sie wollten ohnehin hier
nur Ihre Credenciales stempeln lassen“, meinte Wolf
leicht amüsiert und setzte hinzu: „Sie haben doch ein Begleitfahrzeug — oder?“
Heftiges Protestgeschrei; einer
der Männer knallte gar seinen Fuß mit dem staubigen Wanderstiefel auf den
Schreibtisch, brüllte: „Sieht dieser Fuß etwa nach Begleitfahrzeug aus?“
Allerdings, dachte ich, der Stiefel war zwar staubig, wirkte aber ansonsten
kaum getragen. Unterdessen steigerte sich die Truppe in haltlose Beschimpfungen
hinein, gegen Wolf und sämtliche anderen Anwesenden, gegen die Herberge als
solche, verlangten schließlich zu wissen, wem sie gehöre und wer verantwortlich
sei.
„Sie gehört der Gemeinde und
ich bin verantwortlich“, erklärte Laura, wie aufs Stichwort eingetroffen,
betont ruhig und wies den Randalierern mit jener hoheitsvoll-stolzen Grandeza , zu der nur Vollblutspanierinnen fähig sind, die
Tür. „Diese Typen haben wir nirgendwo unterwegs auf dem Camino getroffen — aber
jeden Abend sind sie in den Herbergen, die nehmen immer den Bus.“, erzählten
uns einige Pilger, die die Szene beobachtet hatten und sich nun zu uns ins
Empfangsbüro setzten.
„Okay, bezüglich des
Begleitfahrzeugs hab ich mich geirrt“, meinte Wolf, „aber nicht im Bezug
darauf, dass mit denen was faul war.“
„Woran hast du das gemerkt —
außer an den Wanderstiefeln?“, wollte ich wissen.
„Ach, mit der Zeit bekommt man
einen Blick dafür. Das verschwitzte Aussehen war nicht echt.“
Dann erläuterte er mir und den
interessiert lauschenden Pilgern die Tricks, um auszusehen, als sei man weit
gewandert, ohne es tatsächlich getan zu haben.
„Das einfachste ist, sich das
Hemd unter den Achseln und am Rücken mit Wasser nass zu machen und das Gesicht
auch, sodass es scheint, man habe geschwitzt. Staub auf die Schuhe holt man
sich am Straßenrand oder an einem Sandhaufen. Es gibt auch welche, die mit dem
Rucksack auf dem Rücken den Kopf für fünf Minuten weit nach unten hängen
lassen, dann wird er rot wie nach längerer Anstrengung.“
„Warum das ganze Theater —
warum wollen diese Camino-Touristen unbedingt in Herbergen übernachten, obwohl
sie gar keine echten Pilger sind?“
Wolf seufzte. „Weil es
preiswert ist. Sie wollen einfach billig Urlaub auf dem Jakobsweg machen.
Außerdem ist die Atmosphäre in vielen Herbergen toll.“
Das war wohl wahr. Gerade das
Empfangsbüro, mit Sofa und Sesseln ein wenig wie ein Salón ,
ein Wohnzimmer, ausgestattet, übte auf die Pilger eine magnetische
Anziehungskraft aus. Sie gesellten sich gerne zu uns, als ob sie Nestwärme
suchten. Gelegentlich spielten wir miteinander die spanische Version von
„Mensch ärgere dich nicht“, sie ließen sich wie üblich Ratschläge für den
weiteren Weg geben oder
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