Raum
Finger, fünf Zehen, noch fünf Zehen. Einen nach dem anderen lasse ich sie winken. Ich versuche in meinem Kopf zu sprechen. Ma? Ma? Ma? Ich höre nicht, dass sie antwortet.
Als es anfängt, heller zu werden, tue ich die Decke über mein Gesicht, damit es wieder dunkel ist. Ich glaube, so muss es sich anfühlen, wenn man Verschwunden ist.
Personen laufen herum und flüstern. »Jack?« Das ist Grandma neben meinem Gesicht, deshalb rolle ich mich weg. »Wie geht es dir?«
Die Manieren fallen mir wieder ein. »Heute nicht so hundertprozentig, danke.« Ich bin nuschelig, weil Schlimmerzahn an meiner Zunge klebt.
Als sie weg ist, setze ich mich auf und zähle meine Sachen in der Dora-Tasche, meine Kleider und Schuhe und Ahornflügel und Eisenbahn und Zeichenviereck und Rassel und Glitzerherz und Krokodil und Stein und Affe und Auto und sechs Bücher, das sechste ist Der Bagger Dylan aus dem Geschäft.
Einen Haufen Stunden später wieder Waa waa, das heißt Telefon. Grandma kommt zu mir. »Das war Dr. Clay. Deine Ma ist stabil. Das hört sich doch gut an, oder?«
Es hört sich an wie Stall.
»Und außerdem gibt es zum Frühstück Blaubeerpfannkuchen.«
Ich bleibe so still liegen, als ob ich ein Skelett bin. Die Decke riecht staubig.
Bimm-bamm, bimm-bamm , Grandma geht wieder runter.
Unter mir Stimmen, ich zähle meine Zehen, dann meine Finger und dann immer wieder neu meine Zähne. Jedes Mal komme ich auf die richtige Zahl, aber ich bin mir trotzdem unsicher.
Grandma kommt wieder rauf, sie ist ganz außer Atem und sagt, dass Grandpa da ist und Auf Wiedersehen sagen will.
»Mir?«
»Uns allen, er fliegt zurück nach Australien. Jetzt steh mal auf, Jack, davon, dass du dich nur im Bett fläzt, wird es auch nicht besser.«
Ich weiß nicht, was das ist. »Er will, dass ich nicht geboren bin.«
»Er will was?«
»Er sagt, ich hätte nicht geboren sein sollen, dann müsste Ma auch nicht Ma sein.«
Grandma sagt gar nichts mehr, deshalb denke ich, dass sie nach unten gegangen ist. Ich stecke meinen Kopf raus und will nachgucken. Sie ist immer noch da und hat ganz feste die Arme um sich. »Kümmer dich nicht um dieses A…«
»Was ist ein A…?«
»Komm jetzt runter, und iss einen Pfannkuchen.«
»Ich kann nicht.«
»Schau dich doch mal an.«
Wie soll das gehen?
»Du atmest und läufst und redest und schläfst doch ohne deine Ma, oder? Dann kannst du garantiert auch ohne sie essen.«
Ich lasse Schlimmerzahn in meiner Backe, damit ihm nichts passiert. Auf den Stufen mache ich extra langsam.
In der Küche hat Grandpa, der richtige, was Lilanes an seinem Mund. Sein ganzer Pfannkuchen ist in einer Siruppfütze mit noch mehr lila Dingern, das sind Blaubeeren.
Die Teller sind normal weiß, aber die Form von den Gläsern ist falsch, sie haben Ecken. Es gibt eine große Schüssel mit Würstchen. Ich wusste gar nicht, dass ich Hunger hatte. Ich esse ein Würstchen und dann noch zwei.
Grandma sagt, sie hat keinen Saft ohne Fruchtfleisch, aber trinken muss ich was, sonst ersticke ich an meinen Würstchen. Also trinke ich den mit Stückchen, und die Bazillen krabbeln meinen Hals runter. Der Kühlschrank ist riesig und voll mit Schachteln und Flaschen. Die Schränkchen haben so viel Essen in sich drin, dass Grandma auf Stufen klettern muss, wenn sie in alle gucken will.
Sie sagt, ich soll jetzt duschen, aber ich tue so, als ob ich es nicht höre.
»Was ist stabil?«, frage ich Grandpa.
»Stabil?« Eine Träne kommt ihm aus dem Auge, und er wischt sie weg. »Nicht besser und nicht schlechter, schätze ich.« Er tut auf dem Teller sein Messer und seine Gabel zusammen.
Nicht besser und nicht schlechter als was?
Schlimmerzahn schmeckt vom Saft ganz sauer. Ich gehe wieder nach oben und schlafe.
»Schätzchen«, sagt Grandma. »Du wirst nicht noch einen ganzen Tag vor der Flimmerkiste verbringen.«
»Häh?«
Sie schaltet den Fernseher aus. »Dr. Clay hat gerade angerufen, weil er sich Sorgen um deine entwicklungspsychologischen Bedürfnisse macht. Ich musste ihm weismachen, dass wir gerade Dame spielen.«
Ich blinzele und reibe mir die Augen. Warum hat sie ihm eine Lüge gesagt? »Ist Ma … ?«
»Sie ist immer noch stabil, sagt er. Hast du vielleicht wirklich Lust, Dame zu spielen?«
»Deine Steine sind doch für Riesen und fallen immer runter.«
Sie seufzt. »Wie oft soll ich dir noch sagen, dass das hier die richtigen sind, genau wie beim Schach und bei den Karten. Das kleine Magnetset, mit dem
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