Raum
verknittern ihre Augen. »Du hast doch bestimmt ein bisschen Sehnsucht nach zu Hause.«
»Sehnsucht nach zu Hause?« Ma starrt sie an.
»Entschuldigung, ich wollte nicht …«
»Das war kein Zuhause , es war eine schalldichte Zelle.«
»So habe ich das nicht gemeint, bitte verzeihen Sie«, sagt Noreen.
Sie geht ganz schnell raus. Ma sagt nichts, sie schreibt nur in ihr Notizbuch.
Wenn Raum nicht unser Zuhause war, heißt das dann, dass wir keins haben?
Heute Morgen klatsche ich Dr. Clay ab, er ist begeistert.
»Es kommt mir ein bisschen lächerlich vor, weiter diese Masken zu tragen, wenn wir sowieso schon total verschnupft sind«, sagt Ma.
»Es gibt aber auch noch Schlimmeres.«
»Mag sein, aber wir müssen ja sowieso andauernd die Masken hochschieben, um uns die Nase zu putzen …«
Er zuckt mit den Achseln. »Letztendlich ist es Ihre Entscheidung.«
»Masken ab, Jack«, sagt Ma.
»Hurra.«
Wir werfen sie in den Müll.
Dr. Clays Buntstifte wohnen in einer besonderen Schachtel aus Pappe, auf der 120 steht, so viele sind nämlich verschieden. Sie haben ganz erstaunliche Namen, die klein an der Seite stehen, so wie Atomic Tangerine und Fuzzy Wuzzy und Inchworm und Outer Space, ich wusste gar nicht, dass das Weltall eine Farbe hat, oder Purple Mountain’s Majesty und Razzmatazz und Unmellow Yellow und Wild Blue Yonder . Manche sind extra falsch buchstabiert so wie Mauvelous, das soll ein Witz sein, aber ich finde es nicht lustig. Dr. Clay sagt, ich kann alle benutzen, aber ich suche mir nur die fünf Farben aus, die ich von Raum kenne, einen blauen und einen grünen und einen orangenen und einen roten und einen braunen. Er fragt, ob ich vielleicht Raum malen kann, aber ich male schon in Braun ein Raumschiff. Es gibt sogar einen weißen Buntstift, wäre der nicht unsichtbar?
»Und wenn das Papier schwarz ist?«, fragt Dr. Clay. »Oder rot?« Er sucht mir ein schwarzes Blatt heraus, ich probiere, und er hat recht, da drauf kann ich das Weiße sehen. »Was soll denn das Viereck um die Rakete sein?«
»Wände«, erkläre ich ihm. Außerdem gibt es mich als kleines Mädchen, wie ich zum Abschied winke, und das Jesuskind und Johannes den Täufer, sie haben keine Kleider an, weil es sonnig ist vom gelben Gesicht von Gott.
»Ist deine Ma auch auf dem Bild?«
»Sie ist da ganz unten und hält ein Mittagsschläfchen.«
Die richtige Ma lacht ein bisschen und putzt sich die Nase.
»Und was ist mit dem Mann, den ihr Old Nick nennt? Ist der irgendwo?«
»Na gut, der kann hier unten in der Ecke sein, in seinem Käfig.« Ich male ihn und mache die Gitterstäbe ganz dick, er beißt rein. Es gibt zehn Stäbe, das ist die stärkste Anzahl, nicht mal ein Engel könnte sie mit seinem Schneidbrenner aufbrennen, und Ma sagt, für so einen bösen Mann würde sowieso kein Engel seinen Schneidbrenner anmachen. Ich zeige Dr. Clay, wie viele Zahlen ich zählen kann, ich komme bis 1 000 029 und sogar noch weiter, wenn ich will.
»Ich kenne einen kleinen Jungen, der zählt immer wieder dieselben Dinge, wenn er sich irgendwie unsicher fühlt, er kann gar nichts dagegen tun.«
»Was für Dinge?«, frage ich.
»Die Ritzen auf dem Bürgersteig, Knöpfe, solche Sachen.«
Ich finde, der Junge sollte lieber seine Zähne zählen, die sind nämlich immer da, außer sie fallen aus.
»Sie sprechen immer von Trennungsangst«, sagt Ma zu Dr. Clay, »dabei werden Jack und ich doch gar nicht voneinander getrennt.«
»Aber Sie sind jetzt auch nicht mehr nur zu zweit, nicht wahr?«
Sie kaut auf ihren Lippen. Sie sprechen über Soziale Wiedereingliederung und Selbstvorwürfe.
»Den größten Gefallen haben Sie ihm damit getan, dass Sie ihn frühzeitig da herausgeschafft haben«, sagt Dr. Clay. »Mit fünf sind sie noch formbar wie Knete.«
Aber ich bin gar nicht aus Knete, ich bin ein richtiger Junge.
»… möglicherweise noch jung genug, um es zu vergessen«, sagt er gerade, »das wäre ein Segen.«
Segen macht doch das Jesuskind.
Ich will noch weiter mit der Jungenpuppe spielen, die die Zunge herausstreckt, aber die Zeit ist um, jetzt muss Dr. Clay mit Mrs. Garber spielen. Er sagt, ich kann die Puppe bis morgen ausleihen, aber trotzdem gehört sie immer noch Dr. Clay.
»Warum?«
»Na ja, weil alles auf der Welt irgendjemandem gehört.«
So wie meine sechs neuen Spielsachen und meine fünf neuen Bücher, und ich glaube, Schlimmerzahn gehört auch mir, weil Ma ihn nicht mehr wollte.
»Außer den Dingen, die allen
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