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Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)

Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)

Titel: Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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den Mann nicht genauer ausmachen; sie sah nur, dass er groß und hager war. Seine Kleidung machte einen merkwürdig zerfetzten Eindruck. Vielleicht war er auf dem Weg hierher in einem Dornengestrüpp hängen geblieben?
    Wäre Janice nicht so erschöpft gewesen, sie hätte lauthals lachen mögen. Wahrscheinlich sah sie auch nicht sehr viel besser aus!
    »Sir?«, sagte die junge, blondgelockte Frau leise. Instinktiv sprach sie mit gedämpfter Stimme, um den Mann am Turm nicht zu erschrecken.
    Der Fremde hielt in seiner mysteriösen Tätigkeit inne. Drehte sich um. Blickte sie an.
    Ein eisig kalter Windstoß, der aus dem Nichts zu kommen schien, riss die Nebelschleier auseinander.
    Denn das, was da vor ihr stand, war kein Mensch mehr. Vielleicht war es einmal einer gewesen, aber selbst dessen war sie sich in diesem grauenhaften Augenblick nicht sicher.
    Das, was sie für Kleiderfetzen gehalten hatte, waren nicht nur die verrotteten Überreste von Tuch. Es war vertrocknetes Fleisch, aus dem blanke Knochen ragten, kränklich weiß und fahl.
    Janice begriff nicht, wie sich diese Monstrosität überhaupt aufrecht halten, geschweige denn gehen konnte, denn ihre offen zu Tage liegenden Kniegelenke wurden von nichts gehalten, was an Bänder oder Sehnen erinnerte. Gleiches galt für die Arme. Hände und Füße waren nur noch verfaulte Stümpfe.
    Nase und Lippen fehlten, ja, selbst die Wangen waren weggefressen. Wo sie einmal gewesen waren, gaben große Löcher den Blick auf braune, verrottete Zahnstummel frei. In dem zungenlosen Mund und in den leeren Augenhöhlen des Untoten wimmelten fette weiße Maden. Gekrönt wurde die Schreckensfratze von einem Büschel strähniger, gebleichter Haare, die einen albtraumhaften Kontrast zu den schwarzen Fleisch- und Hautresten des Schädels bildeten.
    Seit sie mit Raven mehrmals den Mächten der Finsternis entgegengetreten war, wusste Janice, welches Entsetzen die andere, jenseitige Welt für Sterbliche bereit halten konnte. Aber einer solch abscheulichen Monstrosität wie diesem Untoten war sie bisher noch nie begegnet, nicht einmal in jenem höllischen Schattenreich des Assassinen, aus dem Raven sie erst in letzter Sekunde hatte retten können.
    Jeden Augenblick rechnete sie damit, dass sich der lebende Leichnam auf sie stürzen würde, um seine Zähne in ihren Körper zu schlagen oder um sie mit seinen fauligen Totenhänden zu erwürgen. Aber nichts dergleichen geschah. Der Untote blieb einfach nur ruhig vor ihr stehen und schien sie dabei aus seinen madenbefallenden Augenhöhlen anzustarren.
    Dann drehte er sich langsam um - eine widerlich obszöne, unheilige Bewegung toter Knochen und verfaulten Fleisches - und wandte sich wieder der Turmwand zu. Seine verstümmelten Hände begannen erneut, Mörtel aus den Fugen zwischen den Quadern zu kratzen.
    Am liebsten wäre Janice davongelaufen, aber etwas in ihr hielt sie zurück. Sie fühlte sich wie paralysiert. Sie konnte nichts anderes tun, als dem Untoten bei seiner merkwürdigen, auf den ersten Blick sinnlosen Arbeit zuzuschauen.
    Der erste schwarze Quader löste sich aus der Mauer, fiel mit einem dumpfen Ton zu Boden. Der lebende Leichnam hielt trotzdem in seinem Tun nicht inne, sondern machte sich auf der Stelle daran, einen zweiten Stein aus der Umklammerung des Mörtels zu lösen. Und während er das tat, begann bereits ein dritter Stein zu wackeln, sich aus der Mauer herauszuschieben, wie von Gespensterhand bewegt. Sekunden später brach ein ganzes Stück der Turmwand in sich zusammen.
    Und da wurde Janice klar, dass der Untote Unterstützung aus dem Turminneren bekommen hatte!
    Ihr Herz drohte auszusetzen, als sie sah, wie sich eine dürre, vertrocknete Leichenhand aus dem entstandenen Spalt schob. Ihr folgte ein knorriger, entsetzlich dünner Arm, dann eine Schulter. Und schließlich ein mumifiziertes Gesicht.
    Der Untote langte hin und zog das zweite Monstrum aus dem Turm. Und dann - Janice glaubte ihren Augen nicht zu trauen - fielen sich die beiden Schreckgestalten in die Arme.
    Beinahe, dachte die junge Frau, wie zwei Liebende, die sich seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen haben.
    Erst in diesem Augenblick wurde ihr bewusst, dass es sich bei dem zweiten Untoten tatsächlich um eine Frau handelte. Verdorrte, von zerrissenem Stoff nur unzulänglich verborgene Brüste und lang über die Schultern herabfallendes Leichenhaar bezeugten das zur Genüge.
    Aber Janice blieb nicht viel Zeit, das seltsame Paar zu beobachten, das sich in

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