Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
näherer Betrachtung jedoch nur aus Muskeln und Sehnen zu bestehen schien. Als seine Besucher eintraten, legte er gerade den Telefonhörer auf die Gabel zurück und sah auf. Zwischen seinen buschigen Augenbrauen stand eine steile Falte.
»Treten Sie immer in fremde Zimmer, ohne anzuklopfen?«, fragte er.
»Ich habe geklopft«, antwortete Target. »Aber Sie waren ja gerade damit beschäftigt, mit Ihrem Wachhund zu reden.«
Mortenson schien auffahren zu wollen, aber Jeff Target brachte ihn mit einer besänftigenden Handbewegung zum Schweigen, zog sich einen Stuhl heran und ließ sich auf der anderen Seite von Mortensons übergroßem Schreibtisch nieder. Da kein weiterer Stuhl in Sicht war, blieb Raven einfach stehen, an einen Bücherschrank gelehnt.
Er hatte nicht vor, sich in die Unterhaltung einzumischen. Schließlich war er ja nur ein wandelndes Schießeisen, das hatte ihm Target deutlich genug zu verstehen gegeben. Er wurde nicht fürs Reden und Denken bezahlt, sondern dafür, notfalls im richtigen Augenblick zur Stelle zu sein und mit dem rechten Zeigefinger einen Pistolenabzug einige Millimeter weiter zum Körper hin zu bewegen. Und das vor allem mit legaler Genehmigung.
In solchen Momenten hasste Raven seinen Job aus ganzem Herzen.
»Tut mir leid, wenn ich unhöflich erscheine«, sagte Target überraschend verbindlich. »Aber ich bin jetzt seit drei Tagen in diesem schönen Land und bekomme seither pausenlos Ärger mit irgendwelchen Behörden. Und irgendwann platzt einem Yankee wie mir dann halt der Kragen.«
Auf Mortensons Gesicht zeigte sich eine Spur von Interesse. »Sie sind Amerikaner?«
»Ire«, verbesserte Target. »Aber nur meiner Geburtsurkunde nach. Ich lebe seit zwanzig Jahren in New York. Sie dürfen mich ruhig als waschechten Yankee betrachten.«
Mortenson nickte, stützte die Ellenbogen auf der Tischplatte auf und bettete sein Doppelkinn auf die gefalteten Hände. »Und was kann ich für Sie tun, Mister ...«
»Target«, sagte sein Gegenüber. »Jeff Target. Und das da«, er deutete zielsicher mit dem Daumen hinter sich über die Schulter, »ist ein Privatdetektiv aus London, der für mich arbeitet. Er heißt Raven.« Er seufzte, lehnte sich zurück und betrachtete mit unverhohlener Missbilligung die Unordnung auf Mortensons Schreibtisch. »Und was Sie für mich tun können?« Er überlegte einen Moment und sah Mortenson dann scharf an. »Ich hoffe, eine Menge. Sagt Ihnen der Name Target etwas?«
Mortenson schüttelte den Kopf. »Leider nicht.«
Target nickte. »Wie wäre es mit Malloy? Betty Malloy?«
Diesmal wirkte Mortenson sichtlich betroffen. Ein Schatten huschte über sein Gesicht, und das berufsmäßige Lächeln verschwand wie fortgewischt. »Betty Malloy?«, wiederholte er.
Target nickte.
»Natürlich sagt mir dieser Name etwas«, antwortete Mortenson nach einer Weile. »Aber Sie werden es mir nicht verübeln, wenn ich Sie nach dem Grund Ihres Interesses frage, ehe ich Ihnen irgendwelche Auskünfte erteile.«
Target lächelte, als hätte er nichts anderes erwartet. Unter diesem Lächeln verbarg sich ein Ausdruck tiefster Qual, aber das entging dem Polizeikonstabler. »Natürlich nicht«, sagte der Amerikaner. Er griff in sein Jackett, zog eine Brieftasche hervor und klappte sie auf. »Mein Presseausweis«, erklärte er überflüssigerweise. »Ich bin Reporter bei der New York Times.«
Mortensons Gesichtsausdruck verhärtete sich. Die Freundlichkeit war nun gänzlich aus seinem Gehabe verschwunden.
»Sie vergeuden Ihre Zeit, Mr. Target«, sagte er steif und mit einer Kälte, die zart besaitetere Besucher wahrscheinlich sofort entmutigt hätte. »Ihre Zeit und das Geld Ihrer Zeitung. Sie hätten sich den weiten Flug sparen können. Alles, was wir über den Tod von Mrs. Malloy wissen, steht in den Polizeiakten von Scotland Yard. Einer der Beamten, ein gewisser Card, war fast eine Woche lang hier. Außerdem haben die einheimischen Zeitungen lang und breit darüber berichtet. Zu lang und breit für meinen Geschmack.« Er brach ab, zögerte eine Sekunde und sagte dann: »Ich will ehrlich zu Ihnen sein, Mr. Target. Wir legen keinen allzu großen Wert auf Publicity dieser Art.«
Target hatte ungerührt zugehört. »Sie missverstehen mich, Mortenson«, sagte er leise. »Als ich Sie vorhin nach meinem Namen fragte, geschah das nicht aus Eitelkeit oder Größenwahn, obwohl ich drüben in den Staaten ein sehr bekannter Journalist bin.«
Und einer der höchstbezahlten, dachte
Weitere Kostenlose Bücher