Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
Erregung ergriff ihn. Eigentlich hätte er jetzt Trauer oder zumindest so etwas wie Wehmut empfinden müssen - immerhin war dies der Ort, an dem vor wenigen Wochen eine junge Frau den Tod gefunden hatte. Einen schrecklichen Tod noch dazu. Aber er hatte Betty Target alias Betty Malloy nicht gekannt, und er wusste nicht einmal richtig, wie sie ausgesehen hatte. Alles, was Jeff Target ihm hatte zeigen können, war ein acht Jahre altes Hochzeitsfoto, dazu ein knappes Dutzend Briefe und Weihnachtskarten, die sie in zwanzig Jahren gewechselt hatten und denen gelegentlich ein neueres Passbild beigefügt gewesen war.
Im Grunde waren Betty und Jeff zwar Geschwister, aber trotzdem Fremde gewesen. Und doch wurde Jeff nun von Bettys Tod regelrecht aufgefressen. Raven schüttelte müde den Kopf. Er begriff den hünenhaften Reporter immer weniger, je länger er ihn kannte.
Er erreichte die beiden riesigen Menhire, die das Ende des Weges markierten, und blieb zwischen den polierten Quadern stehen. Auf der grauen, von Wind, Regen und Jahrhunderten porös gewordenen Oberfläche befanden sich verschlungene Zeichen und Linien, Symbole, die an altgermanische Runen erinnerten und doch wieder ganz anders waren.
Plötzlich erklang ein seltsames, leises Geräusch, ein Laut, als würde irgendwo ein dünnes Glas angeschlagen. Raven sah auf, blickte sich misstrauisch um und wich automatisch in den Schatten eines der Steinblöcke zurück.
Der Stein war warm ...
Raven brauchte lange, endlose Sekunden, um zu begreifen, dass sich der Fels in seinem Rücken ganz und gar nicht wie Fels anfühlte. Das Geräusch vergessend, drehte er sich um und fuhr vorsichtig mit den Fingerspitzen über den Stein. Er fühlte sich auf groteske Art gleichzeitig hart und porös wie weich, warm und von geheimnisvollem Leben durchpulst an. Raven schüttelte verwundert den Kopf, trat einen halben Schritt zurück und legte dann zögernd die ganze Hand auf den Stein.
Im ersten Moment fühlte er nichts, aber dann begann er ein sanftes, auf- und abschwellendes Vibrieren wahrzunehmen, ein dumpfes Klopfen, etwas wie ...
... wie das Schlagen eines gigantischen Herzens, das tief unter ihm im Fels hämmerte und pochte!
Raven stöhnte, als der Gedanke mit ungeheurer Wucht über ihn hereinbrach. Es war nicht nur eine Idee, ein Verdacht, er wusste einfach, dass es so war!
Von plötzlichem Entsetzen gepackt, taumelte er zurück, stieß mit dem Rücken gegen den zweiten Fels und fuhr mit einem kehligen Schrei herum. Er war kein Feigling, ganz gewiss nicht, aber dies hier war eine Art des Schreckens, gegen die der menschliche Geist nicht gewappnet war.
Er wirbelte herum, geriet mit dem Fuß in eines der unzähligen trichterförmigen Löcher im Boden und fiel der Länge nach hin. Ein scharfer Schmerz zuckte durch seine Handgelenke, als er versuchte, den Sturz aufzufangen. Und für einen Augenblick wurde ihm schwarz vor Augen.
Als er sich aufrichtete, sah er den Schatten.
Er stand zwischen den beiden Felsen, genau an der Stelle, an der Raven sich noch vor Sekunden aufgehalten hatte, groß, unglaublich groß und massig, und es war nicht der Schatten eines Menschen!
Grotesk verzerrt ragte er mehr als drei Meter empor, ein bizarres, massiges Ding mit plumpen, säulenförmigen Beinen, die in fürchterlichen Raubvogelklauen endeten, einem warzigen, aufgedunsenen Körper und einem Übelkeit erregenden Etwas dort, wo man einen Kopf erwartet hätte. Dicke, mit scharfzähnigen Saugnäpfen versehene Krakenarme pendelten unruhig hin und her, dazwischen zuckten dünne schwarze Fäden, die an schleimige Nervenenden erinnerten.
Die Gestalt strömte einen unglaublichen Gestank aus, und die Laute, die sie von sich gab, erinnerten Raven an das Krächzen eines halb erstickten Vogels.
Raven erstarrte zu vollkommener Bewegungslosigkeit. Das Wesen blickte nicht in seine Richtung. Instinktiv hielt er den Atem an, um ja kein Geräusch zu verursachen und die Aufmerksamkeit dieses lebenden Albtraumes nicht auf sich zu lenken.
Das Ding machte einen Schritt, der der scheinbaren Plumpheit seines Körpers Hohn sprach, berührte mit zweien seiner peitschenden Tentakel die Menhire rechts und links und ging dann zielstrebig auf den Felskreis zu. Bereits nach wenigen Augenblicken war es zwischen den Felstrümmern verschwunden.
Raven atmete lautlos auf. Sein Herz begann schnell und schmerzhaft hart zu rasen, und seine Knie zitterten so stark, dass er Mühe hatte, aufzustehen.
Instinktiv wollte er sich
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