Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
grelle Neonbeleuchtung. Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis der Privatdetektiv Hillary Gifford ausgemacht hatte. Sie saß allein an einem Tisch an der
gegenüberliegenden Seite des Raums und blickte hin und wieder scheinbar nervös in Richtung Tür. Das, was sie ihm mitzuteilen vorhatte, schien sie so stark zu bewegen, dass sie sein Kommen mehr als ungeduldig erwartete. Dabei war es kaum zwölf Uhr.
Als sie wieder einmal aufschaute, grüßte Raven mit der Hand zu ihr hinüber. Offensichtlich hatte sie ihn jetzt auch bemerkt, denn sie erwiderte den Gruß und deutete auf den anderen, noch freien Stuhl an ihrem Tisch. Raven nickte und machte sich daran, sich einen Weg durch die Menschenmengen im Zentrum des Raumes zu bahnen, vorbei an der Tanzfläche.
»Ah, Mr. Raven«, begrüßte ihn Hillary Gifford. »Sie glauben gar nicht, wie froh ich bin, dass Sie gekommen sind!«
Raven zauberte ein halbherziges Lächeln auf sein Gesicht. »Miss Gifford.« Sehr behutsam ließ er sich auf einem zerbrechlich wirkenden weißen Plastikstuhl nieder. Obwohl er nicht gerade ein Riese war, war dieser Stuhl doch ganz entschieden zu klein für ihn. Überhaupt hatte Raven manchmal das Gefühl, dass die Welt eher für Zwerge als für normal große Menschen ausgelegt war. Und wie sehr musste erst ein Mann wie Jeff Target, sein amerikanischer Freund, unter solchen Liliputaner-Sitzen leiden, wenn sie schon ihm, Raven, binnen weniger Minuten infernalische Rückenschmerzen bereiteten!
Während er sich verzweifelt abmühte, durch seitliches Abknicken der Unterschenkel eine wenigstens halbwegs bequeme Sitzhaltung zu entwickeln, musterte der Privatdetektiv mit professioneller Aufmerksamkeit sein hübsches Gegenüber. Hier, in der gnadenlosen Neonhelligkeit der Discothek, konnte er erkennen, was das Halbdunkel des Giffordschen Parks gnädig verborgen hatte: Trotz aller Mittel der modernen Kosmetik sah Hillary Gifford nur noch wie ein Schatten ihrer selbst aus. Sie wirkte bleich und übernächtigt, und Raven gewann den geradezu schmerzhaft deutlichen Eindruck, dass sie Angst hatte. Dafür sprach nicht nur der nervöse Tic, der um ihre Mundwinkel spielte, sondern auch der gehetzte Ausdruck in ihren Augen. Und dem, was sie hetzt, dachte Raven in jäher Einsicht, kann sie nicht entrinnen, weil es nicht von außen kommt, sondern in ihr selber steckt.
Hillary Giffords erste Worte bestätigten seine Meinung auf das Verblüffendste.
»Mr. Raven«, sagte die Diplomatentochter mit heiserer, seltsam fern klingender Stimme, »ich weiß nicht recht, wie ich anfangen soll, aber ich habe Sie hierher gebeten, weil ich Albträume habe.«
Sie blickte ihn unter halb gesenkten Augenlidern an. Dann sprach sie rasch weiter, beinahe so, als wolle sie mit dem, was sie zu sagen hatte, fertig werden, bevor sie der Mut dazu verließ. »Und all diese Albträume haben mit den Thul Saduum zu tun. Sie machen mir eine wahnsinnige Angst, und ich bin schon ganz verzweifelt. Und darum - darum wollte ich mit Ihnen sprechen. Wenn einer weiß, was es mit diesen Träumen auf sich hat, dann Sie.«
Raven, der immer noch dabei war, seine Beine auf geeignete Weise zu knicken und zu falten, legte die Fingerspitzen zu einem Dach zusammen und stützte das Kinn nachdenklich darauf. Allerdings verlor diese ansonsten sehr tiefsinnig wirkende Geste erheblich an Wirkung, weil seine Ellenbogen ständig rechts und links von den Armlehnen des Plastikstuhls zu rutschen drohten.
»Miss Gifford«, sagte er langsam, »Ihr Vertrauen ehrt mich, aber ich glaube, dass Sie die Antwort, die Sie von mir hören wollen, schon längst selber kennen.« Er hielt einen Augenblick inne, versuchte, sich die Worte so zurechtzulegen, dass er das Mädchen nicht damit verletzte. »Sie sind zusammen mit mehreren Hundert anderen Menschen von einem Dämonenmonster als Teil eines magischen Zirkels missbraucht worden, um eine unglaublich alte, unglaublich böse Macht aus der Vorzeit der Erde - eben die Thul Saduum - in unsere Gegenwart heraufzubeschwören. Dieser scheußliche Plan ist zwar misslungen, und das Monster hat sein verdientes Ende gefunden, aber nichtsdestotrotz ist das alles passiert, und es wäre mehr als nur verwunderlich, wenn es keinerlei bleibende Spuren in Ihrer Psyche hinterlassen hätte.«
Er beugte sich ein Stückchen zu ihr vor und blickte sie sehr lange und sehr ernst an.
»Nein, es wundert mich überhaupt nicht, dass Sie Albträume haben, Miss Gifford. Es hätte mich viel mehr gewundert, wenn
Weitere Kostenlose Bücher