Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
Rampe hinunter. Einen Korridor entlang ...
Endlos zog sich die Verfolgung hin. Immer noch jaulten die Sirenen; gelegentlich ertönten spitze Schreie. Aber offenbar hatte der Amokläufer noch kein weiteres Opfer gefunden. Schon zu dem Zeitpunkt, als er plötzlich vor dem Kristallschädel durchgedreht war, hatten sich nur noch verhältnismäßig wenige Menschen im Gebäude aufgehalten, weil kurz zuvor bereits der erste Gong ertönt war, der zum Verlassen des Centre aufforderte. Nur die Tatsache, dass sich der Amoklauf so kurz vor der Schließung des Kulturpalastes ereignet hatte, hatte ein Blutbad von unvorstellbaren Ausmaßen vermieden.
Doch auch so war es schon schlimm genug geworden ...
Raven lief und lief, eingehüllt in einen zähen Albtraum, aus dem es kein Entrinnen zu geben schien. Seine Füße bewegten sich, als watete er durch dickflüssigen Sirup. Tränen des Schmerzes, der Wut und der Verzweiflung quollen aus seinen brennenden Augen.
Und dann war die Jagd vorbei - beinahe jedenfalls.
Raven torkelte wie betrunken durch einen Raum, in dem entlang der Wände eine Reihe mächtiger aztekischer Götzenbilder aufgestellt waren. Er war am Ende, erledigt, völlig ausgepumpt. Sollten andere den wahnsinnigen Mörder fangen. Er nicht.
Er blieb stehen, sank auf die Knie, rang ächzend nach Luft. Selbst wenn er den Amokläufer gestellt hätte, wäre er in seinem jetzigen Zustand nicht in der Lage gewesen, ihn niederzuringen.
Mühsam hob er den Blick.
Der kleine Franzose mit dem blutbefleckten Messer in der Hand stand im Durchgang zum nächsten Raum. An ihm vorbei konnte Raven die Vitrine mit dem Kristallschädel erkennen und daneben die zersplitterten Überreste des anderen Schaukastens, aus dem der Opferdolch stammte. Der Kleiderschrank mit den Preisringerschultern und das Frettchen, das ein schauderhaftes Französisch, dafür aber fließend Deutsch sprach, waren verschwunden; wahrscheinlich hatten sie sich in Sicherheit gebracht, sobald die ärgste Blutung aus der Schulterwunde des Kleiderschrankes gestillt gewesen war.
Trotzdem war der Raum nicht leer. Vor der Vitrine mit dem Kristallschädel stand eine junge Frau, die Raven schon beim ersten Hinsehen vage bekannt vorkam. Sie kehrte Raven und dem wahnsinnigen Mörder den Rücken zu.
Dann drehte sie sich um, wohl von dem Schnaufen und Keuchen des Amokläufers aufgeschreckt. Raven stockte das Blut in den Adern, als der Amokläufer mit erhobenem Dolch einen Schritt auf die junge Frau zu machte.
Denn die junge Frau war niemand anderes als Melissa McMurray.
Raven wartete den zweiten Schritt des Amokläufers gar nicht erst ab.
In einer zu einer Ewigkeit erstarrten Sekunde sammelte er seine letzten Kräfte. Woher sie kamen, wusste er nicht, doch jetzt waren sie da. Plötzlich war er wieder auf den Füßen.
Noch einen Augenblick zuvor hatte er geglaubt, auch nicht einen Schritt mehr gehen zu können.
Jetzt ging er nicht nur, er flog.
Ein Kaleidoskop verschiedenartiger Eindrücke drang auf ihn ein, während er sich durch die Luft auf den Wahnsinnigen schnellte. Das rasselnde Atmen des Amokläufers war überlaut in seinen Ohren, und das blutige Obsidianmesser schnitt unwirklich groß quer durch sein Gesichtsfeld. Irgendwo ertönten rufende Stimmen.
Hinter der Opferklinge schwebte sehr bleich und sehr verzerrt das Gesicht Melissa McMurrays. Ihr Mund war zu einem gellenden Schrei geöffnet, sodass man erkennen konnte, wie klein und regelmäßig ihre Zähne waren.
Dann erreichte Melissas Schrei seine Ohren, überlagerte das Keuchen des Irren.
Es war nicht der Angstschrei, mit dem Raven gerechnet hatte.
Es war der Kampfschrei einer geübten Karatekämpferin.
Blitzartig änderte Raven seine Taktik. Statt den Amokläufer von hinten mit den Armen zu umschlingen, wie er ursprünglich geplant hatte, rollte er sich zu einer Kanonenkugel zusammen und krachte ihm von hinten gegen die Beine.
Der blutbesudelte kleine Franzose taumelte unter der Wucht des Aufpralls nach vorne. Seine von seinem umnebelten Verstand ohnehin nicht mehr richtig koordinierten Bewegungen wurden womöglich noch unkoordinierter. Er ruderte ziellos mit den Armen, verzweifelt bemüht, wenigstens einen Rest von Gleichgewicht zu wahren. Ein ersticktes Röcheln entrang sich seiner Kehle. An das Messer in seiner Hand vermochte er in diesem Moment nicht mehr zu denken.
Das gab Melissa McMurray Zeit, zwei knochenharte Handkantenschläge zu platzieren. Der erste traf das Handgelenk des Amokläufers,
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