Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
sich der Untote die Kehle durch!
»Ach, das ist alles eine Katastrophe! Und das alles in meiner Ausstellung! Was soll ich morgen bloß der Presse sagen? Was soll ich denn bloß machen? Könnt ihr mir das vielleicht erklären?«
Der kleine, zappelige Mann funkelte sie unter buschigen Augenbrauen hervor zornig und verzweifelt an. Seine bäurischen Hände beschrieben weite Bögen durch die Luft, Bögen, die alles zu umfassen schienen, was eine Beziehung zu den Ereignissen der letzten Stunden hatte: den Amokläufer, die Polizei, die Presse, die Verletzten. Das ganze Centre Georges Pompidou.
Der kleine, zappelige Mann hieß Albert Le Duc. Er war der Organisator der Ausstellung hier in Beaubourg, in der sich das Ungeheuerliche zugetragen hatte.
Ein Mann, dessen Identität die Polizei nach eigenen Angaben sicherlich noch im Laufe der Nacht ermitteln würde, hatte die Unverfrorenheit besessen, in seiner Ausstellung süd- und mittelamerikanischer Kunst Amok zu laufen und dann sich selbst zu TÖTEN. Das war nicht nur désagreable, das war ennuyeux. Und angesichts der wenig erquicklichen Tatumstände war es vielleicht sogar schon dégoětant.
»Den Kristallschädel aus der Ausstellung entfernen«, sagte Melissa McMurray leise, aber bestimmt.
Albert Le Duc starrte seine britische Kollegin verblüfft an. Offenbar war er mit seinen Gedanken schon wieder ganz woanders gewesen.
»Was? Wie?«, stieß er hervor, und unterschwellige Feindseligkeit schwang in seiner Stimme mit. »Was meinst du damit? Warum sagst du das?«
Melissa gab sich nicht einmal die Mühe, wenigstens die Andeutung eines diplomatischen Lächelns zuwege zu bringen. Sie wirkte völlig ausgebrannt. »Du hast uns gefragt, was du machen sollst. Und ich habe dir eine Antwort darauf gegeben.«
Le Duc fuhr sich mit der linken Hand durch sein schütter werdendes Haar, kämmte mit den spatenförmigen Fingern vier Scheitel hinein. Ein nervöser Tick ließ seinen linken Mundwinkel zucken.
»Das kommt mir völlig sinnlos vor«, sagte er langsam, und seine Feindseligkeit hatte sich in Müdigkeit aufgelöst. »Sicher, der Amokläufer ist durchgedreht, nachdem er minutenlang dem Kristallschädel in die Augen gestarrt hat - das habt ihr ja auch bei der Polizei ausgesagt -, aber er war natürlich schon vorher nicht mehr so ganz richtig im Kopf. Aus einer Nervenheilanstalt entsprungen oder so. Und zufällig war's eben der Kristallschädel, mit dessen Hilfe er sich in Trance versetzt hatte, bis die letzten Tötungshemmungen fielen. Selbsthypnose sozusagen. Das hätte er auch mit jedem anderen Objekt machen können, einem der Götzenbilder im Nebenraum zum Beispiel. Stimmt's? Und außerdem« - seine Stimme wurde jetzt fast flehend - »außerdem müssen wir dieses Detail ja nicht gerade der Presse gegenüber erwähnen, richtig, Jet?«
Jet? Ravens Blick wanderte zu Melissa McMurray hinüber, die zusammen mit Albert Le Duc auf der anderen Seite des Schaukastens stand, in dem der Kristallschädel auf seiner Samtdecke ruhte. Er glühte nicht mehr in unirdischem Feuer. Sein Schein war in dem Augenblick verloschen, da sich der Untote mit dem Obsidiandolch die Kehle durchgeschnitten hatte.
Melissas Blick traf sich mit seinem. Der Spitzname Jet passte gut zu ihr - nicht nur wegen ihres jetschwarzen Haares, sondern vor allem auch wegen des enormen Tempos, mit dem sie durchs Leben stürmte und von dem Raven bei ihrem Besuch in seinem Londoner Büro eine erste Kostprobe erhalten hatte. Konnte das wirklich erst gestern gewesen sein?
Obwohl die beiden keine Zeit gefunden hatten, sich miteinander abzusprechen, bevor die Polizei unmittelbar nach dem »Selbstmord« des Amokläufers in den Raum gestürmt war, in dem sie sich jetzt, gut drei Stunden später, wieder aufhielten, hatten sie in einer Art stillschweigender Übereinkunft bei den ersten Vernehmungen die unheimlichen Begleiterscheinungen der mörderischen Ereignisse mit keinem Wort erwähnt. Nach ihren Darstellungen war es ein ganz gewöhnlicher Amoklauf gewesen.
Soweit es überhaupt ganz gewöhnliche Amokläufe gibt.
Raven verlagerte vorsichtig sein Gewicht auf das verletzte Bein. Der Schmerz war auszuhalten. Glücklicherweise war die Schnittwunde nur oberflächlicher Natur; sie hatte nicht einmal genäht werden müssen.
Fast unmerklich schüttelte er den Kopf. Le Duc war nicht der Typ, dem man ein solches Geheimnis anvertrauen konnte, selbst wenn er mit Melissa auf Duzfuß stand. Und außerdem - hätte er ihnen denn
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