Raven - Schattenreiter (6 Romane)
noch zu vertiefen, statt sie aufzuhellen.
Die Frau war nervös. Sie war länger ausgeblieben, als sie ursprünglich vorgehabt hatte, und der letzte Bus war längst abgefahren, als sie sich schließlich auf den Heimweg machte.
Normalerweise wäre sie niemals allein durch den einsamen Park gegangen. Aber sie war müde, der Umweg um den Park herum hätte sie eine halbe Stunde gekostet, und außerdem sorgten regelmäßige Polizeistreifen dafür, dass der Hyde Park auch nachts relativ sicher war.
Trotzdem hatte sie Angst. Sie hielt sich streng an die beleuchteten Wege, aber die schattige, sanfte Dunkelheit zwischen den Bäumen rechts und links erfüllte sie mit Unruhe. In der Dunkelheit schienen sich die Bäume in riesige bizarre Gestalten verwandelt zu haben, gigantische Wesen, die mit gierigen Armen nach ihr greifen wollten. In das Plätschern des Flusses neben ihr schienen sich murmelnde, geheimnisvolle Stimmen zu mischen, und das Geräusch ihrer Schritte auf dem kiesbestreuten Weg rief seltsame, verzerrte Echos hervor.
Sie sah sich ängstlich um, presste ihre Handtasche an sich und ging schneller. Sie musste sich beherrschen, um nicht einfach loszurennen.
In den Schatten zwischen den Bäumen links von ihr knackte es. Eine schnelle, huschende Bewegung ließ sie zusammenfahren.
Sie spürte plötzlich, dass sie nicht mehr allein war. Irgendjemand war dort drüben, keine zehn Meter von ihr entfernt, und beobachtete sie.
Sie spürte, wie ein harter, bitterer Kloß in ihrer Kehle entstand. Sie wollte schreien, aber es ging nicht. Sie brachte keinen Laut hervor.
Das Geräusch wiederholte sich, und diesmal sah sie den Schatten deutlicher: der dunkle, bedrohliche Umriss eines Mannes, der sich langsam aus den Bäumen löste und auf sie zukam.
»Was - was wollen Sie?«, fragte sie krächzend.
Der Mann antwortete nicht. Aber er kam näher. Er war groß, muskulös und sehr elegant gekleidet; eigentlich eine Erscheinung, der man kaum zutraute, dass sie nachts in einsamen Gegenden Frauen auflauerte.
Aber seine Augen waren die eines Wahnsinnigen. Sein Gesicht glänzte schweißnass, und seine Lippen bebten.
»Was wollen Sie von mir?«, fragte die Frau ein zweites Mal. Sie musste all ihre Kraft zusammennehmen, um die wenigen Worte hervorzustoßen. »Ich - ich habe kein Geld, wenn Sie ...«
Der Mann stürzte sich auf sie.
Sie versuchte auszuweichen, aber ihre Reaktionen waren viel zu langsam.
Er packte sie bei den Schultern, riss sie herum und schleuderte sie zu Boden. Ein heißer, stechender Schmerz fuhr durch ihren Rücken, als sie auf dem Kies aufschlug.
Sie wehrte sich verzweifelt, strampelte mit den Beinen, schlug, trat und kratzte, aber der Mann war viel zu stark für sie. Er warf sich mit seinem ganzen Körpergewicht auf sie, presste ihre Arme mit den Knien gegen den Boden und starrte sie wild an. In seinen Augen flackerte ein irres, wahnsinniges Feuer.
Seine Hand glitt zum Gürtel und kam mit einem zweischneidigen, schmalen Dolch wieder zum Vorschein.
Die Frau schrie entsetzt auf, als ihr klar wurde, dass der Fremde vorhatte, sie zu töten. Ihr Schrei gellte weit und laut durch den Park. Aber sie wusste, dass jede Hilfe zu spät kommen musste.
Doch dann geschah etwas Seltsames: Ein hoher, klagender Laut schwang plötzlich durch die Luft, und auf dem Weg hinter dem Mörder erschien eine dunkle, schattenhafte Gestalt, die entfernt an einen Mann auf einem Pferd erinnerte.
Eine unsichtbare Gewalt schien nach dem Mann zu greifen. Er wurde emporgerissen, taumelte ein paar Schritte zurück und stürzte schwer zu Boden.
»Narr!«, dröhnte eine Stimme. »Verdammter Narr! Ich habe dir gesagt, dass ich dieses Opfer nicht will! Du weißt, wen ich erwählt habe. Du selbst hast sie ausgesucht!«
Der Mann stieß einen klagenden, wimmernden Ton aus und versuchte sich aufzurichten. »Bitte ... Ich kann es nicht ... ich ...«
»Schweig!«, donnerte der Reiter. »Du wirst jetzt gehen und tun, was ich von dir verlange! Sofort!«
Irgendetwas Unbegreifliches, Fremdes schien plötzlich in der Luft zu liegen. Als sich der Mann aufrichtete, war sein Blick leer. Seine Bewegungen wirkten hölzern und ungelenk, als er sich bückte und den Dolch aufhob.
»Ich werde gehorchen«, murmelte er.
Der Kopf des geisterhaften Reiters ruckte herum. Sein Blick bohrte sich in den der Frau, und für einen winzigen, zeitlosen Moment hatte sie das Gefühl, direkt in die Hölle zu schauen.
Dann hob der Reiter die Hand.
Ein sengender Blitz
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