Raven - Schattenreiter (6 Romane)
weiße, rechteckige Karte fiel ihm entgegen.
Raven blinzelte, um im schwachen Schein der Straßenlaternen die Schrift entziffern zu können. Der Text war kurz. Er bestand aus vier knappen, in krakeliger Handschrift hingekritzelten Worten:
Mit freundlichen Grüßen - Hanson.
Raven zog eine Grimasse, zerknüllte den Zettel und schleuderte ihn wütend zu Boden. Dann riss er mit einer entschlossenen Bewegung das Pfandsiegel vom Türschloss ab und schwang sich hinter das Steuer. Schließlich hatte er mit Hanson eine Absprache getroffen. Und er konnte erwarten, dass auch ein Gerichtsvollzieher zu seinen Worten stand.
Er ließ den Motor an, sah kurz in den Rückspiegel und brauste los. Die Straßen waren selbst um diese nachtschlafende Zeit noch belebt, aber Raven war in London aufgewachsen und kannte die Straßen so gut wie seine Westentasche. Die vereinbarte halbe Stunde war noch nicht um, als er vor der flachen, elegant wirkenden Villa in der Helter Lane anhielt.
Die Eingangstür stand offen, und hinter den Fenstern im Erdgeschoss schimmerte helles gelbes Licht. Ein Polizeiwagen mit eingeschaltetem Blaulicht blockierte die Straße vor dem Haus, und der gepflegte, kurz geschnittene Rasen rechts und links des Eingangs war durch eine Reihe hässlicher Reifenspuren verunziert.
Raven parkte den Maserati demonstrativ unter einem Halteverbotsschild, quittierte den missbilligenden Blick eines Passanten mit einem freundlichen Grinsen und marschierte auf die Villa zu.
Ein halbes Dutzend uniformierter Polizisten wimmelten in der weitläufigen Eingangshalle umher. Raven betrat den Raum und blieb verblüfft stehen. Von außen hatte die Villa einen ganz normalen Eindruck gemacht - eines von Dutzenden von Häusern, wie man sie in dieser feineren Wohngegend Londons antraf. Prominenten-Ärzte, Anwälte, Manager und Filmstars pflegten hier zu wohnen. Dieses Haus allerdings schien einem Sonderling zu gehören, um es vorsichtig auszudrücken.
Die Empfangshalle machte den Eindruck einer mittelalterlichen Burg. Die Wände waren mit deckenhohen Holztäfelungen versehen. Überall hingen Waffen, Zinngeschirr und mittelalterlicher Zierat, und zwei silberne, bis an die Zähne bewaffnete Ritterrüstungen flankierten die ausladende Treppe, die ins Obergeschoss hinaufführte.
Einer der Polizisten trat mit fragendem Gesichtsausdruck auf Raven zu.
»Inspektor Card erwartet mich«, sagte Raven.
»Sie sind Mr. Raven?«
»Ja.«
»Gut. Kommen Sie mit!«
Sie durchquerten die Halle, gingen durch einen kurzen, kaum erleuchteten Korridor und kamen schließlich in ein Zimmer, das ein Mittelding zwischen Bibliothek und Wohnraum zu sein schien. Deckenhohe, bis an den Rand mit alten Büchern vollgestopfte Regale nahmen drei Wände des Raumes ein. An der vierten Wand stand ein alter, handgeschnitzter Eichenschrank neben einem vollkommen unpassenden Stereoregal.
Und auf dem Boden lagen zwei lang gestreckte, in weiße Leinentücher gehüllte Gegenstände. Der kostbare Teppich war blutbefleckt.
»Raven!« Card kam von der anderen Seite des Raumes auf ihn zu und streckte ihm jovial die Hand entgegen. »Gut, dass Sie so schnell gekommen sind.«
»Was ist passiert?«, fragte Raven.
Card zuckte mit den Achseln. »Mord«, sagte er einfach. »Aber eine ganz besonders scheußliche Art von Mord.« Er zögerte sichtlich, dann scheuchte er den Polizisten mit einer befehlenden Geste aus dem Raum und drehte sich um. »Ich hoffe, Sie haben einen guten Magen«, sagte er geheimnisvoll. »Kommen Sie!«
Er ging zu einem der weiß verhüllten Körper hinüber, bückte sich und hob das Tuch an einer Seite an. Raven spähte neugierig über seine Schulter.
»Rouwland«, erklärte Card. »Steven Rouwland. Ein Schläger aus Thompsons Truppe.«
»Thompson? Der Pokerkönig?«
Card nickte. »Ja. Der andere dort drüben ist Summers. Auch einer von Thompsons Leuten.« Er stand auf und riss das Tuch ohne Vorwarnung ganz von dem Leichnam herunter.
Raven stieß ein unterdrücktes Keuchen aus, drehte sich um und schlug die Hand vor den Mund. Einen Moment lang stand er mit geschlossenen Augen da und kämpfte gegen den aufsteigenden Brechreiz an.
Raven schluckte. »Das - das war unfair«, sagte er mühsam. In seinem Mund war plötzlich ein bitterer, ekelhafter Geschmack. »Sie hätten mich warnen können.« Er drehte sich langsam um und zwang sich dazu, den schrecklichen Anblick noch einmal genauer aufzunehmen. »Wer - wer war das?«, fragte er mühsam.
Card zog die Decke
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