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Ravinia

Titel: Ravinia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Corzilius
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Anfang einer langen, gemeinsamen Reise, an deren Ende jeder von ihnen ein anderer sein sollte.

5. Kapitel, in dem Lara sich nicht mehr sicher ist, was sie denken soll.
    When I’m asleep in Cascade Street
    I don’t,
    I don’t See anything
    Â  Yann Tiersen
    â€“ Szenenwechsel.
    Die Straße gehört den Träumern.
    So lautet ein altes Sprichwort in Ravinia.
    Doch davon wusste Lee noch nichts an diesem bitterkalten Morgen im Bundesstaat Rhode Island.
    Hätte er von Ravinia gewusst – von seinen Sprichwörtern, von seinen Möglichkeiten, von seiner Magie –, so hätte er seine Träume sicherlich zuzuordnen gewusst. Doch so konnte er sie nicht recht fassen, denn es waren immer nur Schnipsel, kleine Fetzen, die ihm nach dem Aufwachen blieben.
    Sie wurden ihm jedoch zusehends unheimlicher, da die Menschen aus seinen Träumen wiederzukehren schienen. Es tauchten immer häufiger dieselben Personen darin auf. Das Mädchen mit bernsteinfarbenem Haar kam immer wieder vor. Ebenso ein großer Mann mit langen Haaren und düsterem Gesicht, soweit sich das von Gesichtern überhaupt sagen ließ. Es war zumindest das, was Lee in dem farbigen Nebel der nächtlichen Träume zu erkennen glaubte. Auch andere Männer und Frauen waren dort, aber die Erinnerungen daran wurden meist schon mit dem ersten Aufschlagen der Augenlider schwächer.
    In den letzten Tagen und Wochen kamen die Träume häufiger, und Lee fragte sich allmählich, ob das normal war. Ob er wohl jemanden darauf ansprechen sollte? Doch wer im Waisenhaus würde ihm zuhören, ohne ihn direkt zu Mrs Carter, der Psychologin, zu schicken?
    Vielleicht hatten alle Menschen mit fünfzehn verrückte Träume? Vielleicht war Fünfzehn eine Unglückszahl? Herrje. Wurde er jetzt sogar schon abergläubisch?
    Er war wütend. Wütend auf sich selbst, auf seinen Kopf, der ihm Streiche spielte.
    Es war nicht so, dass das Leben im Waisenhaus ihm etwas ausgemacht hätte. Im Gegenteil, er kannte es ja gar nicht anders. Zwar war er nie der Stärkste gewesen, aber ebenso wenig ein Außenseiter oder ein Gejagter. Dennoch war es immer Lee gewesen, der sich seine Freunde ausgesucht hatte. Niemals umgekehrt.
    Gedankenverloren spielte er mit seinem Zippo-Feuerzeug. Neben der kleinen Mundharmonika in G-Dur war es das Einzige gewesen, was ihm von seinem Vater geblieben war. Auf beidem war in feiner Schrift William Crooks eingraviert. Beides benutzte er häufig.
    Mrs Anderson, eine der Betreuerinnen – und vielleicht war sie die einzige Betreuerin, die Lee mochte –, hatte es für unbedenklich gehalten, ihm letztes Jahr das Feuerzeug auszuhändigen.
    Â»Sie haben gesagt, ich solle damit warten, bis du alt genug wärst zum Rauchen. Aber wenn du mich fragst, ist das Quatsch. Du weißt, wie ungesund das Rauchen ist, und wenn du es trotzdem tust, dann würde es dich sicherlich nicht hindern, wenn ich dir das Feuerzeug deines Vaters vorenthalte.«
    Und sie hatte es ihm gegeben. Einfach so. Ein weiteres Puzzleteil auf der Suche nach seinen Eltern, die zwar tot, aber anscheinend ohne Grab geblieben waren. Lee hatte sämtliche Leute und Stellen bemüht, die ihm eingefallen waren und an die man ihn herangelassen hatte. Zwar hatte man den Unfalltod seiner Eltern bestätigt, aber Hinweise auf ein Grab hatten sich nirgends gefunden. Ebenso wenig auf ein Bestattungsunternehmen Doracee & Son , das damals angeblich die Leichen abgeholt hatte. Seitdem suchte Lee verzweifelt aber vergebens nach seinen Wurzeln. Wer waren seine Großeltern? Lebten sie noch? Fehlanzeige. Wenn es sie gab, hatten seine Eltern ihn dort wohl niemals vorgestellt.
    Da offensichtlich auch andere Leute vor dem Problem gestanden hatten, dass keine Angehörigen zu dem kleinen Lee Crooks zu finden gewesen waren, hatte man ihn kurzerhand ins Waisenhaus St. Mary – Mother of Hope in Garden’s End, Rhode Island, gesteckt, ein Kaff am Ende der Welt.
    So war sein Leben von vornherein davon bestimmt gewesen, in einem Gerangel aus immerwährenden Machtkämpfen seine Position gegenüber den anderen Kindern zu wahren. Lee war dies immer gelungen, vielleicht gerade weil er gedankenverloren und geheimnisvoll war. Der Junge, der aus dem Nirgendwo kam.
    Offenbar fanden ihn die anderen Heimkinder manchmal ein wenig unheimlich.
    Kein Wunder, dachte Lee. Gab es doch kaum jemanden auf dieser Welt –

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