Raya und Kill - Gefaehrliche Grenze
sein Kinn. »Allerdings
musst du dir die Mahlzeit erarbeiten.« Er zeigt auf die Felswand, deren
künstlicher Wasserfall abgeschaltet ist. Nun liegt die steile Klippe stumpf und
trocken vor uns.
»Ich habe das Essen an einer besonderen Stelle
gebunkert. Wir treffen uns in fünf Minuten da oben. Los geht’s!«
»Oh nein, du Scheusal«, stöhne ich und boxe ihn
sanft in die Seite.
Er grinst. »Wer zuerst auf dem Felsen ist, kriegt
den Kuchen.«
***
Coole
Aussicht.
Irgendwie ein erhabenes Gefühl, aus dieser Höhe die
Umgebung zu überblicken. Unter mir ruht der kleine See – dunkel und beruhigend
weit weg. Wasser wirkt noch immer beängstigend und gefährlich auf mich, auch
wenn ich seit Kurzem schwimmen kann. Die Falkgreifer-Attrappen hinter dem
Becken haben selbst aus dieser Perspektive nichts von ihrer Bedrohlichkeit verloren.
Wie muss das wohl sein, fliegen zu können?
Wenn ich mich auf Zehenspitzen stelle, kann ich
beinahe den Himmel berühren. Ich
balanciere barfuß auf dem Felsen, strecke die Arme in die Höhe und blicke an
meinen Fingerspitzen vorbei zum blauen Firmament. Es fehlt nur ein
klitzekleines Stück. Kill käme da ran.
Lustig, irgendein Witzbold hat die Decke nicht nur hellblau gestrichen, sondern auch
kleine weiße Quellwolken darauf gemalt. Kill kann die Illumination und den
Wasserfall mit der Steueruhr an seinem Handgelenk beliebig regulieren, wie er
mir erklärt hat. Ich gehe jede Wette ein, dass ich eines Tages im Stockdunkeln
hier raufklettern muss.
Mein Blick schweift zu einem kleinen Hain neben dem
Bach. Die Bäume wirken sehr natürlich, obwohl die Blätter vermutlich aus Papier
oder Stoff sind. Nur die breite, stählerne Eingangstür irritiert das perfekte
Bild und erinnert daran, dass der kleine Park mit den Klettergeräten, dem See
und dem Bach künstlich angelegt ist.
Ich hätte es ohne Kill niemals hier rauf geschafft.
Was von unten noch halbwegs locker aussah, erwies sich für mich als
Kamikazeunterfangen. Kill hat mich mehrmals angeschnauzt. »Pass auf!«, »Wenn du
nicht endlich richtig zugreifst, stürzt du ab«, »konzentrier dich gefälligst!«
und so weiter und so fort …
Er war die ganze Zeit unter mir und hat im
entscheidenden Moment meinen Fuß gegen die Felsen gedrückt. Das war bei der
Passage, an der ich schon einmal abgerutscht bin. Doch heute steht mir nicht
der Sinn nach einer Wasserschlacht. Nicht
das auch noch.
Das letzte Stück hat Kill mich plötzlich überholt
– weiß der Teufel, wie er das gemacht hat. Dann hat er mich an einer Hand auf
das kleine Plateau gezogen.
Glück pur! Wie ich wieder runterkomme? Darüber mache ich mir später Gedanken. Erleichtert
lasse ich mich mit ausgestreckten Armen in die flache Felsmulde plumpsen. Kill
setzt sich im Schneidersitz neben mich, wickelt das Essen aus und reicht mir
eine Stulle mit Fleisch und Salat.
»Was ist es?«
»Probier’s!«
Ich beiße hinein, kaue und schlucke. »Taube ist es
nicht. Schwein, Kuh und Lamm aber auch nicht«, sage ich.
»Und kein Falkgreifer«, ergänzt er. »Das fällt
unter unsere Tabus. Bei euch aber offenbar nicht.«
»Ja, ein paar Gills essen angeblich Falkgreifer-Fleisch.
Aber ich würde das niemals tun. Ich finde das makaber. Die Vogelartigen haben ja
zum Teil auch unsere Menschengene.«
Kill zeigt auf mein Brot. »Hast du herausgefunden,
was du isst?«
»Nein. Keine Ahnung.«
»Bei uns gilt ein Gesetz: Iss, was du selbst
gejagt und getötet hast und teile es mit deiner Familie und deinen Freunden.«
» Du hast
das Tier erlegt?«
»Ja. Ein Reh. Es hatte ein faire Chance. Ich habe
ihm sein Leben genommen, schnell und schmerzlos. Danach bedanken wir uns bei
dem Tier, weil es uns Kraft gibt.«
»Wie macht ihr das?«
Kill macht eine Handbewegung vom Boden zum Himmel.
»Danke, jetzt bist du frei.« Dann neigt er den Kopf tief und berührt mit beiden
Händen den Boden.
»Ein schöner Brauch.«
»Es geht dabei um Respekt vor dem wilden, freien
Tier.«
»Glaubst du, wir haben keinen Respekt?«, frage
ich, obwohl ich seine Antwort tief in meinem Inneren bereits kenne.
»Ja, das glaube ich. Ihr sperrt eure Tiere ein.
Sie sterben ohne Dank. Und ihr sperrt euch selbst ein, hier in dieser
abgewrackten, dunklen Stadt, in der es kein Blühen gibt, kein Wachsen und keine
Freiheit.« Merkwürdigerweise sagt Kill das ganz ruhig und entspannt. Ich kann
nicht den leisesten Vorwurf aus seiner dunklen Stimme hören, eher klingt sie
ein wenig traurig.
Ich höre auf zu kauen und
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