Rebecca
hier, wie ein Hellseher, der Kontakt zu dem vermissten Besitzer eines bestimmten Gegenstands aufnehmen will.
Ich räusperte mich. »Sind Sie krank?«
Er hob den Blick. »Ich habe den Efeu beschnitten. Den muss man im Zaum halten, sonst überwuchert er das ganze Haus. Dabei bin ich von der Leiter gefallen und habe mir das Bein gebrochen. Der Gips ist zwar ab, aber ich muss mich noch ein bisschen schonen. Die Knochen heilen nicht mehr so schnell in meinem Alter.«
»Tja, das geht uns allen so. Sie haben Ihr Niederländisch aber nicht verlernt.«
Sein Niederländisch war in der Tat perfekt, nur bei wenigen Wörtern hörte man an der Aussprache, dass er von Kind an in Deutschland gelebt hatte. »Nachdem ich Wilma geheiratet hatte, habe ich wieder angefangen, Niederländisch zu sprechen. Meine Frau kommt aus Drenthe.«
»Sie schien über mein Kommen nicht gerade begeistert zu sein.«
Er lächelte freudlos. »Sie ist der Meinung, Ihre Detektei koste uns nur Geld, ohne dass bei den Ermittlungen etwas herauskommt. Ihre Verwandtschaft liegt ihr in den Ohren. Die Leute glauben eben gerne, was in der Zeitung steht.«
»Ich habe eigentlich gehofft, mit Ihrem Vater reden zu können.«
De Bruin strich die Decke glatt. »Ich bin derjenige, der Ihre Firma beauftragt hat. Nachdem das alles angefangen hatte, ist er …«
»Untergetaucht?«
Sein Blick wurde unfreundlich. »Mein Vater ist fast neunzig Jahre alt und bei schlechter Gesundheit. Er kann sich nicht verteidigen und trotzdem wurde bei den Justizbehörden bereits ein Auslieferungsantrag gestellt. Warum, glauben Sie, habe ich die teuerste Detektei in den ganzen Niederlanden eingeschaltet? Ich hoffe sehr, dass Sie inzwischen Beweise dafür gefunden haben, dass er kein Kriegsverbrecher ist. Wir wollen, dass sein guter Ruf so bald wie möglich wiederhergestellt wird.«
Söhne konnten sich in ihren Vätern irren, aber Marsman war nach und nach zu der Überzeugung gelangt, dass de Bruin womöglich Recht hatte. Ein niederländischer Journalist hatte den Aufenthaltsort seines Vaters, Hendrik de Bruin, ausfindig gemacht, der früher Mitglied der niederländischen Nationaal-Socialistische Beweging gewesen war. Er hatte eine Deutsche geheiratet und wurde verdächtigt, 1944 im Auftrag der Gestapo mindestens sechs Widerstandskämpfer liquidiert zu haben. Der Journalist hatte mehrere Zeitzeugen aufgetrieben, die de Bruin anhand des Fotos auf einem deutschen Dokument wiedererkannten, welches besagte, dass ein gewisser Hendrik de Bruin 1944 unter dem Decknamen Heinrich Brauner für die Gestapo gearbeitet hatte. Frederik behauptete, das Dokument sei gefälscht, denn seine Eltern seien bereits 1943 zusammen mit ihm, ihrem damals vierjährigen Sohn, nach Deutschland ausgewandert und dort geblieben. Leider war genau das schwer zu beweisen, denn sie hatten sich ausgerechnet in Dresden niedergelassen, das Ende 1944 nahezu völlig zerstört worden war. Frederiks Mutter war bei der Bombardierung ums Leben gekommen. Laut Frederik waren er und sein Vater anschließend nach Rotenburg gegangen, wo Hendrik später ein Bauunternehmen gegründet hatte. Die Zeitungen hingegen behaupteten, de Bruin habe sich sofort nach seiner Ankunft in Deutschland bei der Gestapo gemeldet, möglicherweise aus Zorn darüber, wie er und seine deutsche Frau in Groningen behandelt worden waren, und die Gestapo habe ihn 1944 zurück in die Niederlande geschickt, um den Widerstand zu infiltrieren.
Ich holte verschiedene Fotos aus meiner Tasche. »Trotzdem muss ich auch mit Ihrem Vater sprechen«, sagte ich. »Marsman erhielt dieses Foto von einem alten Freund von ihm, Wim Stoete. Er arbeitete in Groningen bei derselben Baufirma wie er.«
Frederik de Bruin schaute stirnrunzelnd das Schwarz-Weiß-Foto an, auf dem zwölf Bauarbeiter mit Bierflaschen in der Hand in die Kamera lächelten. »Das ist aber nicht besonders scharf.«
»Es stammt aus dem Jahr 1938«, erklärte ich. »Wir können froh sein, dass es von einem Berufsfotografen aufgenommen wurde und dass Stoete es die ganze Zeit so sorgsam aufbewahrt hat. Stoete steht in der hinteren Reihe neben Ihrem Vater, aber der Mann, um den es eigentlich geht, steht links vorne. Wir haben sowohl sein Gesicht als auch das Ihres Vaters ausschneiden und vergrößern lassen.« Ich gab ihm die Vergrößerungen. Durch die Grobkörnigkeit verschwammen die Einzelheiten, ein Mann wirkte etwas fleischiger als der andere, aber es war deutlich erkennbar, dass sie gleichaltrig waren und
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