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Rebecca

Rebecca

Titel: Rebecca Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felix Thijssen
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solche Schranke zu stellen und auf einen Intercity zu warten. Wenn er sich dort vor den Zug geworfen hätte, hätte der Lokführer nur aus dem Augenwinkel heraus eine Bewegung gesehen und schon wäre es zu spät gewesen.
    Ich konnte Roelofs Beweggründe gut verstehen. Auch ich hatte diese Anwandlungen. Da erhält man dieses besondere Geschenk, einmal im Leben. Ein einmaliges, einzigartiges, perfektes Geschenk. Wenn einem das genommen wird, gibt es nicht mehr den geringsten Grund, morgens aufzustehen, Kaffee zu kochen, Brot zu schneiden, den Tag zu erleben und abends wieder ins Bett zu gehen. Aber diesem Mann war doch gar nichts so Wichtiges genommen worden, er musste nur mit einer Enttäuschung fertig werden. Ach, selbst zehn Enttäuschungen konnten sein Handeln nicht erklären. Er besaß all seine Geschenke noch, Frau, Sohn, Tochter, Arbeit, er wohnte mitten im Paradies. Er hatte sich auf die Schienen gelegt. Die Vorstellung war mir fast unerträglich, warum er und nicht ich?
    Wie lange hatte er dort gelegen? Drei Minuten? Was ging in seinem Verstand vor in dieser Ewigkeit? Oder war sein Verstand bereits ausgeschaltet gewesen?
    Von ferne hörte ich Klingeln und beeilte mich, von den Schienen herunterzukommen, damit der Lokführer keinen Herzinfarkt kriegte. Der Zug raste vorbei und nahm seinen Lärm mit sich. Ich kehrte zu der Unterführung zurück und gesellte mich zu dem kleinen Jungen. Er blickte mich von der Seite an und lächelte unsicher. Er war acht, neun Jahre alt, helle Augen in einem offenen, schmalen Gesicht, strohblonde Haare und Dreckstreifen über einem Mückenstich auf seiner Wange. Die Angel lag auf dem Metallgeländer der Brücke, ein Bambusstock, Metalldraht durch Ösen gezogen, die mit Klebeband am Stock befestigt waren, ein rot-weißer Schwimmer.
    »Gibt’s Fisch zum Abendessen?«, fragte ich.
    Der Junge zuckte mit den knochigen Schultern unter dem karierten Hemd. Ein Stichling schwamm im Marmeladenglas zu seinen Füßen herum und ein leerer Käscher lehnte am Brückengeländer.
    »Da sind jedenfalls Plötzen drin«, sagte der Junge.
    Das Wasser sah trübe aus – dichtes Schilf, Schwertlilien, Entengrütze und kaum Bewegung. »Musst du nicht in die Schule?«
    »Nein, wir haben schon Ferien. Nächste Woche fahren wir auf den Campingplatz in Putten.«
    »Wohnst du hier in der Nähe?«
    Er wies mit einem Nicken auf die Unterführung. »Auf der anderen Seite. Sind Sie wegen dem Unfall hier?«
    Seine Frage überraschte mich nicht. Warum sollte ich sonst auf den Schienen herumklettern? »Ja, ich schaue mich ein bisschen um.«
    »Es ist da hinten passiert.«
    »Hast du etwas gesehen?«
    Er schüttelte den Kopf, nahm die Hand von der Angel und rieb sich über die zerstochene Wange. »Ich war oben in meinem Zimmer. Sind Sie von der Polizei?«
    »Ich bin ein Detektiv.«
    »Wie die im Fernsehen? Ich will später auch mal Detektiv werden.« Er schaute mich aufmerksam an.
    »Ach, meine Arbeit ist nicht so spannend wie im Fernsehen«, sagte ich. »Werde lieber Pilot, da siehst du wenigstens was von der Welt.«
    »Haben Sie eine Pistole?«
    »Ja, aber nicht dabei.« Ich klopfte auf mein Hemd.
    »Die Polizei war bei uns.«
    »Haben sie auch mit dir geredet?«
    Er schüttelte den Kopf. »Nur mit meinen Eltern, aber die haben gerade die Nachrichten geguckt.«
    »Und du?«
    »Ich war oben, ich bin ins Bett geschickt worden.«
    »So früh schon?«
    Er verzog das Gesicht. »Ich hab die Luft aus dem Vorderreifen von Papas Auto rausgelassen.«
    »Warum denn? Hast du dich über ihn geärgert?«
    »Na ja …« Er runzelte die Stirn. »Auch, ja, aber eigentlich habe ich nur ein bisschen mit einem Nagel im Ventil herumgepult. Ich hab den Nagel wieder rausgekriegt, aber die Luft ist trotzdem weiter rausgekommen. Zur Strafe musste ich gleich nach dem Abendessen ins Bett.«
    »Und, bist du brav schlafen gegangen?«
    Er grinste unsicher. »Nö, ich hab’ noch ein bisschen gespielt, Seeräuber und Fußball.«
    »Am Computer?«
    Er nickte.
    »Und du hast nicht aus dem Fenster geschaut?«
    »Mein Bildschirm steht direkt davor. Tagsüber muss ich die Gardine zuziehen, sonst kann ich nichts sehen.«
    »Ich glaub, da hat einer angebissen«, sagte ich.
    Der Schwimmer war unter die Wasseroberfläche gesunken. Der Junge versetzte der Angel einen Ruck und zog einen leeren Haken heraus.
    »Die sind einfach zu flink«, sagte ich.
    Ein Zug donnerte hinter uns über die Unterführung. Ich fühlte den Windstoß. Der Junge achtete gar

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