Rebecca
Leben anfangen willst, ob du es wegwerfen oder ob du es leben willst.
Ich grinste in meinem Traum: Du willst mir also nicht die Leviten lesen?
Sie muss es auch gewesen sein, die meinen Wecker manipuliert hat. Weil sie alles weiß, auch dass heute Corries erster Arbeitstag war. So kann es nicht weitergehen. Sie muss aufhören, all diese Dinge für mich zu tun, mein Leben zu regeln. Ich weiß, dass sie letztendlich weggehen wird, um sich irgendwo auszuruhen, zusammen mit Hanna.
Ich parkte den BMW am Straßenrand und stieg aus. Es war ein friedlicher Ort: goldenes Sonnenlicht, Bienen, Schmetterlinge, quakende Frösche im Wassergraben, das Ganze plötzlich überlagert vom Donnern und von dem Windstoß eines vorüberfahrenden Zuges.
Geldermalsen-Culemborg. In der Ferne klingelten die Warnglocken eines unbeschrankten Bahnübergangs.
Der Zug war kaum vorüber, als ich bereits wieder die Frösche und die Vögel hörte. Vielleicht hatten sie nicht einmal geschwiegen, schließlich lebten sie hier und waren an den Krach gewöhnt, der sich alle paar Minuten wiederholte. Nur einmal war alles anders gewesen, als die Bremsen quietschten und zischten, die Lichter auf Rot sprangen und die abendliche Ruhe von Hektik und Stimmen und Sirenen gestört wurde und der Lokführer auf zittrigen Beinen neben seiner Zugmaschine stand. Die meisten Lokführer haben so etwas schon einmal erlebt – Berufsrisiko.
Ich ging unter den Bäumen hindurch durch das hohe Gras am Straßenrand. Links stand ein Haus, von dem ich nur ein Spitzdach und ein Fenster im oberen Stockwerk sah. Der Rest lag verborgen hinter den Sträuchern und dem alten Apfelbaum im Garten. Rechts zog sich ein zehn Meter breiter Streifen Brachland zwischen der Straße und dem erhöhten Bahndamm entlang, bewachsen mit Weidensprösslingen, Schilf und Brombeersträuchern. Der Bahndamm war von dieser Seite aus fast unzugänglich. Man hätte sich durch das dichte Gestrüpp schlagen müssen und der Wassergraben war zu breit, um darüberzuspringen.
Ich wartete, bis der nächste Zug kam, diesmal ein Intercity mit einem regulären Bremsweg von einem Kilometer, beziehungsweise von sechshundert Metern, wenn die Notbremse gezogen wurde.
Gegenüber des Hauses führte ein Fußweg zu einer schmalen Fußgängerbrücke, die an einem Seitengraben entlang zu einem kleinen Arbeitstunnel unter den Gleisen führte. Die Wände der Unterführung waren gemauert, das Dach jedoch offen, und die mit rostigen Nieten befestigten Gleise führten auf Stahlträgern darüber hinweg. Der Seitengraben verlief an der Brücke entlang, dann unter der Unterführung hindurch und mündete auf der anderen Seite in einen Teich. Wenn ein Zug über die Unterführung donnerte, musste es ein höllischer Ort sein, aber ansonsten war es ein eigenartig romantisches Fleckchen.
Ein kleiner Junge stand an dem Teich auf der anderen Seite der Unterführung und angelte. Ich hob beruhigend die Hand, um ihn nicht zu erschrecken, bahnte mir einen Weg durch das Unkraut und den Schotter am Fuße des Bahndamms und kletterte ein paar Meter weiter hinauf zu den Schienen.
Irgendwo hier musste es geschehen sein, auf dieser Seite. Züge fahren links. Der Regionalzug von Utrecht nach Den Bosch. Der Bahnhof von Culemborg lag auf dieser Seite der Stadt und der Zug konnte bis hierher kaum eine hohe Geschwindigkeit erreicht haben. Niemand weiß Kursbücher auswendig, aber wenn er ganz sichergehen wollte, hätte Roelof Welmoed besser auf einen Intercity gewartet.
Lokführer sind bei Bahnübergängen besonders vorsichtig, achten auf Autos, die im letzten Moment die Schienen überqueren, den langsamen Traktor mit dem Heuwagen. Tagsüber können sie auf gerader Strecke kilometerweit die Gleise überblicken. Gewiss hatte der Lokführer jetzt Albträume und quälte sich mit der Frage, ob er vielleicht doch noch rechtzeitig hätte bremsen können, aber in der Dämmerung sieht man am schlechtesten und der Mann trug eine grüne Kordjacke und eine Manchesterhose. Gewiss war er nur als undeutlicher Fleck auf den Schienen zu erkennen gewesen, ein Staubteilchen, das der Lokführer wegzublinzeln versuchte, bis er praktisch über ihm war und den Fuß vom tödlichen Pedal nahm.
Es war ein seltsamer Ort.
Warum so weit außerhalb, an einer derart abgelegenen Stelle? In der ganzen Umgebung gab es zahlreiche Bahnübergänge, lediglich abgesichert durch Klingelsignale, Ampeln und halbe Schranken. Es wäre zehnmal einfacher und sicherer gewesen, sich an eine
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