Rebecka Martinsson 01 - Sonnensturm
Kontakt mit der offenen Betreuung in Gävle. Bekam regelmäßig Depotspritzen, machte seine Arbeit. Aber dem Einwohnermeldeamt zufolge ist er im Januar des vergangenen Jahres nach Kiruna umgezogen. Und die Psychiatrische Klinik in Gällivare teilt mit, dass er keinerlei Kontakt zu den Kollegen hier aufgenommen hat.«
»Und …«
»Das weiß ich nicht, aber vermutlich hat er schon seit einem Jahr nicht mehr die Medikamente bekommen, die er braucht. Und ist das so seltsam? Ich meine, du hast doch selbst die Videos von diesen Andachten gesehen. Wirf deine Tabletten weg! Gott ist dein Arzt!«
Sie blieben eine Weile vor der Haustür stehen. In keiner der beiden Wohnungen brannte Licht. Sven-Erik legte die Hand auf die Klinke. Anna-Maria senkte die Stimme.
»Ich habe den Arzt in Gällivare gefragt, was seiner Ansicht nach mit einem Menschen passiert, der keine Depotspritzen mehr bekommt.«
»Und …«
»Du weißt ja, wie die sind … können zu diesem speziellen Fall keine Aussage machen … ist individuell ungeheuer verschieden … aber am Ende hat er sich die Erklärung abgerungen, dass es durchaus vielleicht möglicherweise und eventuell passieren kann, dass sich sein Zustand verschlechtert. Ja, dass er sogar sehr schlecht wird. Weißt du, was er gesagt hat, als ich von dieser Kirche erzählt habe, die einfach rät, die Medikamente wegzuwerfen?«
Sven-Erik schüttelte den Kopf.
»Er sagte: Schwache Menschen fühlen sich von der Kirche oft angezogen. Und die Menschen, die Macht über schwache Menschen haben wollen, ebenfalls.«
Sie schwiegen einige Sekunden lang. Anna-Maria sah zu, wie der Wind ihre Spuren auf der Treppe vor der Haustür mit Schnee füllte.
»Gehen wir also rein«, sagte sie.
Sven-Erik öffnete die Tür, und sie betraten das dunkle Treppenhaus. Anna-Maria machte Licht. Auf einer kleinen Tafel rechts stand, dass Bäckström im ersten Stock wohne. Sie gingen die Treppe hoch. Sie waren schon oft in solchen Mietshäusern gewesen, wenn die Nachbarn laute Auseinandersetzungen gemeldet hatten. Es roch wie immer in diesen Treppenhäusern. Pisse unter der Treppe. Scharfes Reinigungsmittel und Beton.
Sie klingelten, aber niemand öffnete. Sie horchten an der Tür, konnten aber nur die Musik aus der gegenüberliegenden Wohnung hören. Hinter den Fenstern war alles dunkel. Anna-Maria hob den Briefschlitz an und versuchte, hineinzuschauen. In der Wohnung war alles schwarz.
»Wir müssen noch mal wiederkommen«, sagte sie.
Und es ward Abend, und es ward Morgen, das war der sechste Tag.
ES IST ZWANZIG MINUTEN nach vier Uhr nachts. Rebecka sitzt am kleinen Küchentisch in der Hütte in Jiekajärvi. In der Fensterscheibe sieht sie ihre eigenen großen Augen. Jetzt könnte jemand draußen stehen und zu ihr hereinschauen, sie würde es nicht bemerken. Plötzlich könnte dieser Mensch sein Gesicht an die Fensterscheibe pressen, und das Bild dieses Gesichts würde mit dem Spiegelbild ihres eigenen verschmelzen.
Hör jetzt auf, mahnt sie sich. Da draußen ist nichts. Wer sollte denn in Finsternis und Sturm unterwegs sein?
Im Kamin knistert das Feuer, und im Schornstein verursacht der Wind einen langen, einsamen Ton, der vom heulenden Wind draußen und dem leisen Zischen der Gasollampen untermalt wird. Rebecka steht auf und legt zwei Holzscheite nach. Bei diesem Sturm muss das Feuer am Leben erhalten werden. Sonst wird die Hütte am Morgen ausgekühlt sein.
Der harte Wind findet einen Weg durch die Spalten in den Wänden und zwischen dem Türrahmen und den alten ockergelben Spiegeltüren. Früher einmal, vor Rebeckas Geburt, gehörte diese Tür zum Schweinestall. Das hat ihre Großmutter ihr erzählt. Und noch vorher war sie anderswo angebracht. Es ist eine viel zu schöne und solide Tür, um ursprünglich für einen Schweinestall bestimmt gewesen zu sein. Vermutlich hat sie in ein später abgerissenes Wohnhaus gehört. Die Tür dagegen wurde nach dem Abriss weiter verwendet.
Auf dem Boden liegen die Flickenteppiche der Großmutter in mehreren Schichten. Sie isolieren und sperren die Kälte aus. Der Schnee, der an den Wänden hochgeweht wird, isoliert ebenfalls. Und die Nordwand wird zusätzlich durch einen Holzstapel geschützt, der wegen des Schnees mit einer Plane bedeckt ist.
Neben dem Kamin stehen ein emaillierter Eimer, eine Kelle aus rostfreiem Stahl und ein großer Korb voller Holz. Gleich daneben liegen auf einigen alten Illustrierten die von Sara und Lova bemalten Steine. Lovas Stein stellt einen
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