Rebecka Martinsson 02 - Weisse Nacht
los.
Warum gibt man alle seine Bücher weg, überlegte sie.
Lisa Stöckel stand am Küchenfenster und sah Anna-Marias Wagen in öligem Rauch unten am Hang verschwinden. Dann setzte sie sich neben den schlafenden Labrador auf die Küchenbank. Sie streichelte Hals und Brust der Hündin so, wie eine Hündin ihre Jungen leckt, um sie zu beruhigen. Die Hündin erwachte und schlug einige Male voller Zuneigung mit dem Schwanz.
»Was ist mit dir, Majken«, fragte Lisa. »Du stehst ja gar nicht mehr auf, um die Leute zu begrüßen.«
Ihre Stimmbänder verschnürten sich zu einem schmerzenden Knoten. Unter ihren Augenlidern wurde es heiß. Dort lagen Tränen. Aber die durften nicht herauskommen.
Sie muss arge Schmerzen haben, dachte sie.
Lisa sprang auf.
Ach, Gott, Mildred, dachte sie. Verzeih mir. Bitte, verzeih. Ich versuche ja, alles richtig zu machen, aber ich habe Angst.
Sie brauchte Luft, plötzlich war ihr schlecht. Sie lief auf die Treppe hinaus und übergab sich dort.
Sofort waren die Hunde da. Wenn sie das Erbrochene nicht selbst haben wollte, würden sie sich gern darum kümmern. Sie schob sie mit dem Fuß weg.
Diese verdammte Polizistin. Sie war einfach in ihren Kopf gestiegen und hatte ihn wie ein Bilderbuch geöffnet. Mildred auf jeder Seite. Sie wollte sich diese Bilder nicht mehr ansehen. Wie das vom ersten Zusammentreffen, vor sechs Jahren. Sie erinnerte sich gut, wie sie bei den Kaninchenställen stand. Die mussten gefüttert werden. Kaninchen, weiß, grau, schwarz, gefleckt, erhoben sich auf die Hinterbeine und pressten ihre Näschen durch den Maschendraht. Sie verteilte Pellets und schrumplige Möhrenstücke und andere Hackfrüchte auf kleine Tongefäße. War ein wenig traurig, weil die Kaninchen bald unten im Restaurant im Kochtopf landen würden.
Dann steht sie hinter ihr, die Pastorin, die ins Pfarrhaus eingezogen ist. Sie sind sich noch nicht begegnet. Lisa hat sie nicht kommen hören. Mildred Nilsson ist eine Frau ihres Alters. Irgendwo um die fünfzig. Sie hat ein blasses kleines Gesicht. Ihre Haare sind lang und dunkelbraun. Lisa wird noch sehr oft hören, dass Mildred als unscheinbar bezeichnet wird. Als »nicht schön, aber…« Lisa wird das niemals verstehen.
In ihr passiert etwas, als sie die schmale Hand ergreift, die ihr hingestreckt wird. Sie muss ihrer eigenen Hand befehlen loszulassen. Die Pastorin redet. Sogar ihr Mund ist klein. Schmale Lippen. Wie eine kleine rote Himbeere. Und während der Himbeermund redet und redet, singen die Augen ein schönes Lied. Über etwas ganz anderes.
Zum ersten Mal seit – ja, sie weiß schon gar nicht mehr, seit wann – hat Lisa Angst, die Wahrheit könnte ihr anzusehen sein. Sie hätte gern einen Spiegel, um das zu überprüfen. Und dabei hat sie ihr Geheimnis ihr Leben lang gehütet. Und kennt die Wahrheit darüber, das schönste Mädchen in der Stadt zu sein. Sie hat zwar davon erzählt, wie es war, immer wieder zu hören »sieh dir diese Titten an«. Wie es sie dazu gebracht hat, sich zu krümmen und sich Rückenprobleme zuzulegen. Aber es gibt noch andere Dinge, tausend Geheimnisse.
Bengt, der Vetter ihres Vaters, als sie dreizehn war. Er packte ihre Haare und wickelte sie um seine Hand. Ihre ganze Kopfhaut schien sich zu lösen. Halt die Fresse, fauchte er ihr ins Ohr. Er zerrte sie auf die Toilette. Schlug ihren Kopf gegen die Fliesen, damit ihr klar wurde, dass er das alles ernst meinte. Mit der anderen Hand knöpfte er ihre Jeans auf. Die Familie saß unten im Wohnzimmer.
Sie hielt die Fresse. Sagte niemals etwas. Schnitt sich die Haare ab.
Oder das letzte Mal in ihrem Leben, als sie Schnaps getrunken hatte, am Mittsommerabend 1965 . Sie war wie bewusstlos. Und da waren drei Jungen aus der Stadt. Zwei von ihnen wohnen noch in Kiruna, vor nicht allzu langer Zeit ist ihr einer im Supermarkt über den Weg gelaufen. Aber die Erinnerung daran hat sie wie einen Stein in einen Brunnen fallen lassen, es ist wie ein lange zurückliegender Traum.
Und dann gibt es die Jahre mit Tommy. Damals, als er mit seinen Vettern aus Lannavaara gezecht hatte. Es war Ende September. Mimmi kann nicht mehr als drei, vier Jahre alt gewesen sein. Das Eis war noch nicht fest. Und sie hatten ihm eine alte Fischgabel geschenkt. Total wertlos, er begriff nur nie, dass sie sich immer wieder über ihn lustig machten. Gegen Morgen hatte er sie angerufen. Sie hatte ihn mit dem Wagen abgeholt, ihn überreden wollen, die Gabel dazulassen, aber er hatte es geschafft,
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