Rebecka Martinsson 03 - Der schwarze Steg
eine Regalkante, aber das ist nur ein Plastikstreifen, auf dem Warenbezeichnungen und Preise angebracht werden, und sie fällt mit dem Streifen in der Hand zu Boden.
Ein anderer Kunde, ein Mann, der an der Kühltruhe gestanden hat, stellt rasch seinen Einkaufskorb weg und stürzt auf sie zu.
»Was ist passiert, Kleine?«, fragt er.
Er ist älter als Mutter und Vater, aber nicht alt. Er hat besorgte Augen und eine blaue Wollmütze. Für einen kurzen Moment liegt sie fast in seinen Armen, während er ihr auf die Beine hilft.
»Hier, setz dich. Möchtest du etwas?«
Sie nickt, und er bringt ihr Kaffee und ein frisch gebackenes Rosinenbrötchen.
»Oh, oh«, lacht er, als sie alles verschlingt, als sie den Kaffee in großen Zügen trinkt, obwohl er noch schrecklich heiß ist.
Ihr fällt ein, dass sie bezahlen muss, aber sie muss sich eingestehen, dass sie vielleicht kein Geld bei sich hat. Wie konnte sie von zu Hause weggehen, ohne daran zu denken? Sie sucht in ihren Jackentaschen, und da liegt das Geld, das Vater ihr gegeben hat. Eine Rolle aus zwanzig Fünfhundertern, zusammengehalten von einem Gummiband.
Sie zieht die Rolle hervor.
»Himmel«, sagt der Mann. »Zu Kaffee und Brötchen lad ich dich ein, aber nimm immer nur einen davon.« Er zieht einen Schein aus der Rolle und drückt ihn ihr in die Hand. Danach schiebt er die Rolle in ihre Tasche und zieht sorgfältig den Reißverschluss hoch, wie bei einem sehr kleinen Kind. Dann schaut er auf die Uhr.
»Kommst du jetzt allein zurecht?«, fragt er.
Ester nickt. Der Mann geht, und Ester kauft sich fünfzehn Rosinenbrötchen und Kaffee und geht zurück in ihr Zimmer in der Jungfrugata.
Am nächsten Tag zur gleichen Zeit geht sie wieder zum 7-Eleven und kauft wieder Rosinenbrötchen. Aber der Mann ist nicht da. Er kommt auch am folgenden Tag nicht. Und nicht am Tag darauf. Sie hofft vier Tage lang, dann geht sie nicht mehr hin.
Sie verschläft weiterhin die Tage. Es ist schwer, wach zu sein. Sie denkt an Mutter. Daran, dass sie zu niemandem und an keinen Ort mehr gehört. Sie fragt sich, ob das Haus in Rensjön jetzt leer steht.
Die Tante ruft zweimal an.
»Wie geht es dir?«
»Es geht«, antwortet Ester. »Und dir?«
In dem Moment, in dem sie fragt, weiß sie, dass die Tante immer weint, wenn Jan-Åke auf dem Golfplatz ist.
Es ist so seltsam, denkt Ester. Wir trauern so sehr um sie. Wie ist es möglich, dass wir so einsam in unserer Trauer sind?
»Es geht«, sagt die Tante. »Und Lars-Thomas hat natürlich nicht angerufen.«
Nein, Vater hat nicht angerufen. Ester wüsste gern, ob er und Antte miteinander reden können. Nein. Antte ist verstummt, als der Vater gesagt hat: »Wir müssen vorwärtsschauen«, und: »Es muss ja irgendwie gehen.«
Eines Morgens erwacht sie, und als sie durch die Diele zur Küche geht, um Teewasser aufzusetzen, stößt sie auf einen Handwerker. Er trägt eine blaue Arbeitshose und eine dicke Nylonjacke.
»Oh«, sagt er. »Du hast mich aber erschreckt. Ich wollte bloß etwas Werkzeug holen. Und es hat ja so geschneit.«
Ester schaut ihn überrascht an. Geschneit?
»Du, das muss mindestens ein Meter sein«, sagt er. »Schau doch mal aus dem Fenster. Wir hätten heute hier weitermachen sollen, aber es kommt ja niemand durch.«
Ester blickt aus dem Fenster. Es ist eine andere Welt.
Schnee. Es muss die ganze Nacht geschneit haben. Und noch länger. Sie hat nichts gemerkt. Die Autos auf der Straße sind nur kleine verschneite Haufen. Hoher Schnee auf der Straße. Die Straßenlaternen tragen dicke weiße Wintermützen.
Sie taumelt hinaus in dieses Weiß. Eine Mutter stapft mitten auf der Straße dahin, zieht ihr Kind auf einem Schlitten hinter sich her. Ein Mann in einem eleganten langen, schwarzen Mantel läuft auf Skiern. Ester muss darüber lächeln, wie er Skistock und Aktentasche in derselben Hand hält. Er lächelt zurück. Alle, denen sie begegnet, lächeln. Sie schütteln die Köpfe vor Staunen, dass es so wahnsinnig viel Schnee geben kann. Alle scheinen die Sache mit großer Ruhe aufzunehmen. Die Stadt ist so still. Kein Auto kommt durch.
In den Bäumen sitzen kleine Vögel. Jetzt, da es keine Autos gibt, kann Ester sie hören. Sie hat bisher nur Dohlen und Tauben gesehen, Elstern und Krähen.
Es ist richtiger Neuschnee, der auf Samisch »vahca« heißt. Locker, kalt, weich durch und durch. Ohne klitschiges Wasser darunter.
Eine Stunde später kommt sie wieder ins Haus. Ihr Kopf ist voller Schneebilder. Die
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