Rebecka Martinsson 03 - Der schwarze Steg
Trauer ist einen Schritt zurückgetreten.
Sie könnte eine Leinwand brauchen. Eine ganz große. Und jede Menge weiße Farbe.
Zwischen Esszimmer und Mädchenzimmer haben die Bauarbeiter eine Wand eingerissen. Die liegt fast am Stück auf dem Boden. Ester betrachtet sie. Es ist eine alte Wand. Alte Wände sind aus gespannter Leinwand hergestellt.
Draußen in der Diele liegen einige Säcke Gips, das weiß sie genau.
Und sie scheint aufzulodern. Ein manischer Schaffensdrang, sie sucht sich einen Plastikeimer und schleppt einen Gipssack herein. Der ist schwer, sie bricht in Schweiß aus.
Sie lässt den Gips durch ihre Finger in den Eimer rieseln und rührt mit dem Arm um, ist bis zum Ellbogen weiß.
Sollte ihr Körper auch Fieber haben, so ist ihr Kopf doch erfüllt von eiskaltem Schnee. Und einem Wind, der über das Gebirge streift. Das Licht ist diesiggrau und arm an Farbe. Vielleicht kann man ganz weit rechts, unten am Rand, einige starre Birkenzweige sehen. Mitten auf dem Bild liegen eine Rentierkuh und ihr Kalb. Sie haben geschlafen und sind über Nacht eingeschneit. Der neue tiefe Schnee isoliert gegen die Kälte.
Ester gießt vorsichtig Gips über die große Wand. Sie verschmiert ihn mit den Händen. Sie arbeitet in Schichten, das Bild ist so groß. Wenn der Gips erstarrt, aber ehe er ganz steif geworden ist, wird er cremig, dann kann sie darin zeichnen. Sie zeichnet mit den Fingern, nimmt Schrott und Bauschutt, um den Hörnern Struktur zu geben, reißt Tapetenreste in Streifen und formt im Vordergrund die Zweige.
Sie braucht mehrere Tage, um dieses Bild zu vollenden. Ester arbeitet hart. Als der Gips erstarrt ist, durchsucht sie die Wohnung nach Grundierung. Die Maler haben die Schlafzimmerdecke grundiert, und die Farbe steht noch da, Sie ist perfekt.
Nach der Grundierung kann Ester Pigment auftragen, ohne dass der Gips birst. Sie holt Mutters Tuben aus ihrem Koffer, malt mehrere Schichten, die erste dünn, viel Terpentin und wenig Pigment aus der Tube. Kein Öl, es soll nicht glänzen. Matt, kalt, blau. Und Schatten darunter: gelb, braun, umbra. Es soll zu sehen sein, dass sich unter dem Schnee alle wohlfühlen.
Sie legt eine fettere Farbschicht auf, weniger Terpentin. Jetzt muss sie warten, bis es trocknet. Sie schläft angezogen ein, erwacht und trägt neue Schichten auf. Das Bild scheint sie zu wecken, wenn es für eine neue Schicht bereit ist. Sie wandert drumherum, isst, was immer sie in der Speisekammer findet. Trinkt Tee. Sie kann nicht nach draußen gehen, das spürt sie. Denn draußen ist das Wetter umgeschlagen, es hat getaut, der Schnee ist geschmolzen. Das kann sie nicht sehen. Sie lebt in einer Welt aus Schnee. In ihrem großen weißen Bild.
Aber eines Tages wird sie nicht vom Bild geweckt, sondern von der Kuratorin Gunilla Petrini.
Das Semester hat begonnen. Die Leiterin von Idun Lovéns Kunstschule hat Gunilla angerufen und sich nach Ester erkundigt. Gunilla Petrini hat die Tante angerufen. Sie hat auch Ester anrufen wollen, aber deren Mobiltelefon war nicht geladen. Die Tante und Gunilla haben sich große Sorgen gemacht. Gunilla Petrini hat die Besitzer der Wohnung angerufen, die Ester benutzen darf. Die haben ihr den Namen der Baufirma gegeben, die für die Renovierungsarbeiten zuständig ist, jemand von der Firma ist gekommen und hat die Tür aufgeschlossen. Jetzt steht er in der Türöffnung, während Gunilla Petrini erleichtert auf Esters Bettkante sinkt.
Herrgott, sie haben sich ja solche Sorgen gemacht. Sie dachten doch, ihr sei etwas zugestoßen.
Ester bleibt im Bett liegen. Sie setzt sich nicht sofort auf. Als Gunilla Petrini sie geweckt hatte, war sofort die wirkliche Welt wieder da. Sie will nicht aufstehen. Sie bringt es nicht über sich, auf ihren Beinen zu stehen und um ihre Mutter zu trauern.
»Ich dachte, du wärst bei deiner Familie«, sagt Gunilla Petrini. »Was hast du hier gemacht?«
»Ich habe gemalt«, sagt Ester.
Und als sie das sagt, weiß sie, dass es ihr letztes Bild ist. Sie wird nicht mehr malen.
Gunilla Petrini will es sehen, deshalb steht Ester auf, und sie gehen ins Esszimmer. Der Mann von der Baufirma kommt auch mit.
Ester sieht das Bild an und denkt erleichtert, dass es wirklich fertig geworden ist. Sie hat es nicht gewusst, aber jetzt sieht sie es.
Gunilla Petrini sagt zuerst kein Wort. Sie wandert um das riesige Bild herum, das auf dem Boden liegt. Rentierkuh und Kalb unter dem Schnee. Dann dreht sie sich zu Ester um. Ihr Blick ist
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