Rebecka Martinsson 04 - Bis dein Zorn sich legt
lässt annehmen, dass die Jungen sich dort verirrt hatten.
Er muss sich in diesen Tagen daran gewöhnen. Daran, dass die Leute verstummen, wenn er kommt. An Kommentare wie »Gott möge dir verzeihen« oder »Was zum Teufel hast du dir dabei bloß gedacht, Junge?« An Kopfschütteln und Blicke. An das Schweigen der Mutter. Nicht, dass sie jemals sehr viel gesagt hätte, aber jetzt sieht sie ihn nicht einmal an.
Einmal hört er den Vater zufällig zu einem der Männer aus dem Ort sagen: »Am liebsten würde ich ihn totschlagen, aber das würde Tore ja auch nicht wieder lebendig machen.«
»Jumala on antanu anteeksi« , antwortet der Mann, der fromm ist. Gott hat die Sünde vergeben.
Aber Isak Krekula glaubt nicht an Gott. Er hat keinen Trost. Er kann auch nicht wie Hiob zum Herrn rufen, die Faust gen Himmel ballen. Er murmelt verlegen eine ausweichende Antwort. Seine Faust ballt er gegen Hjalmar.
Am sechsten Tag wird die Suche nach Tore Krekula eingestellt. Fünf Tage kann ein Sechsjähriger nicht im Wald überleben. Vermutlich hat er sich in einem Moor verirrt. Vielleicht ist er in dem Bach ertrunken, an dem die beiden Brüder sich getrennt haben. Oder er ist von einem Bären zerfleischt worden. Der Hof leert sich. Einige Nachbarn suchen auch am sechsten Tag abends pflichtbewusst noch eine Stunde. Aber sie haben doch alle mit ihren eigenen Angelegenheiten zu tun. Und was soll es schon bringen, nach einem Toten zu suchen?
Nachts liegt Hjalmar in der kleinen Kammer wach. Durch die Wand hört er seine Mutter weinen.
»Das ist die Strafe«, jammert sie.
Er hört, wie das Bett knarzt und jammert, als der Vater aufsteht.
»Jetzt hältst du das Maul«, sagt er ohne besonderes Gefühl.
Hjalmar lauscht dem Weinen der Mutter, als plötzlich die Kammertür aufgerissen wird. Es ist Vater Isak.
»Raus mit dir«, brüllt er. »Aufstehen und Hose runter.«
Er schlägt mit dem Gürtel. So fest er kann. Hjalmar hört ihn vor Anstrengung schnaufen. Zuerst denkt er, dass er nicht weinen wird. Nein, nein. Aber am Ende tut es zu weh. Tränen und Schreie kommen, ohne dass er das will.
In der großen Kammer ist es still.
Jetzt ist sie diejenige, die dort liegt und auf ihn lauscht.
Der Morgen des Wunders ist der 23. Juni 1956. Gegen fünf Uhr in der Frühe, noch ehe die Mutter in die Scheune gegangen ist. Ehe der Vater auch nur aufgestanden ist, kommt Tore auf den Hof getrottet. Er geht in die Küche und ruft: »Päivää!« – Guten Tag.
Die Mutter stand auf der Toilette, um sich die Haare hochzustecken. Jetzt kommt sie heraus und starrt Tore an. Dann weint sie. Ruft, schreit. Drückt ihn so fest an sich, dass er Au sagt, und, sie soll loslassen.
Mücken, Kriebelmücken und Bremsen haben ihn so oft gestochen, dass ihm der blutige Hemdenkragen am Hals klebt. Den muss Mutter Kerttu abschneiden. Seine Füße sind wund und geschwollen. Die letzten Tage hat er seine Stiefel in der Hand getragen; darüber werden sie später lachen, dass er seine Stiefel nicht verschludert hat.
Den ganzen Tag kommen Leute aus dem Ort in die Küche und sehen Tore beim Essen zu. Sehen sich an, wie Tore auf der Küchenbank liegt und schläft. Wie Tore wieder isst.
Die Geschichte landet in den Zeitungen und wird im Radio erzählt. Aus dem ganzen Land strömen Briefe ins Haus. Die Leute schicken Geschenke, Kleidungsstücke, Schuhe, Skier. Aus Kiruna und Gällivare kommen sie, um Tore mit eigenen Augen zu sehen. Die Schlagersängerin Ulla Billquist schickt ein Telegramm.
Mutter und Tore fahren mit dem Zug nach Stockholm und Tore wird in der Sendung »Karussell« von Lennart Hyland interviewt.
Hjalmar sitzt vor dem Radio und hört zu. Gott sei Dank sagt Tore im Radio nichts davon, dass Hjalmar ihn geschlagen hat. Aber zu Hause hat es sich im ganzen Dorf herumgesprochen. Hjalmar hat seinen drei Jahre jüngeren Bruder geschlagen. Und ihn dann im Wald zurückgelassen.
Montag, der 27. April
MORGENBESPRECHUNG AUF DER Wache von Kiruna. Anwesend im Konferenzraum waren die Polizeiinspektoren Sven-Erik Stålnacke, Fred Olsson und Tommy Rantakyrö. Sie warteten auf Anna-Maria Mella.
Sven-Erik Stålnacke tunkte den Schnurrbart in seine Kaffeetasse. Früher hatte der wie ein überfahrenes graues Eichhörnchen unter seiner Nase gehangen, aber jetzt, seit er fest mit Airi Bylund zusammen war, hielt er ihn kurz getrimmt.
Eher gereizter Igel derzeit, hatte Tommy Rantakyrö einmal kommentiert. Sven-Erik schnitt sich noch dazu die Nasenhaare und hatte abgenommen,
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