Rebellen der Ewigkeit
ausgegangen, denn der Raum fasste weit über tausend Zuhörer. Fünf Minuten vor Beginn verloren sich allerdings nicht mehr als vielleicht hundert Interessenten in den Stuhlreihen, von denen die Mehrheit höchstwahrscheinlich Mitglieder der Liga oder ihre Unterstützer waren. Oder Kriminalbeamte und Verfassungsschützer, wenn Holmes’ Vermutung stimmte, dachte Willis.
Valerie und er hatten in einer der hinteren Sitzreihen Platz genommen. Von hier aus konnten sie den gesamten Saal mühelos überblicken. Holmes hingegen hatte sich unter die Zuhörer in den ersten Reihen gemischt. Sie sahen, wie er angeregt mit seinem Sitznachbarn plauderte.
Auf dem Podium war ein Tisch mit fünf Stühlen aufgebaut. Ein Techniker war damit beschäftigt, das Mikrofon richtig einzustellen. Immer wieder knackte, quietschte und rumpelte es in den Lautsprechern, die rundum im Saal angebracht waren. Schließlich schien er mit dem Resultat zufrieden zu sein. Er nickte einem Mann zu, der neben der Bühne stand. Wenig später betraten fünf Personen das Podium, drei Männer und zwei Frauen. Keiner von ihnen war jünger als dreißig Jahre.
Einer der Männer pochte gegen das Mikrofon. Das Stimmengemurmel im Saal ließ nach.
»Liebe Kolleginnen und Kollegen«, begann der Mann. »Ich begrüße euch zu unserer heutigen Veranstaltung. Unser Thema ist so brisant wie kaum ein zweites: die Zeit. Die Natur ist schon lange wirtschaftlichen Interessen unterworfen worden. Unternehmen haben sich die Gene von Pflanzen, Tieren und vom Menschen patentieren lassen und verkaufen das, was eigentlich unverkäuflich sein sollte. Jetzt haben sie die Zeit als Ware entdeckt. Die Firma Tempus Fugit darf mit Zustimmung der Regierung mit Lebensjahren handeln.«
Der Redner wurde von zustimmenden Buhrufen aus dem Publikum unterbrochen und legte eine kleine Pause ein.
Die Tür hinter Valerie und Willis öffnete sich, und ein Mann mittleren Alters schlüpfte in den Saal, bemüht, keinen Lärm zu verursachen. Trotzdem hallte es durch den gesamten Raum, als er die Tür wieder hinter sich schloss. Ein paar Dutzend Köpfe drehten sich zu ihm um.
Er duckte sich unwillkürlich und glitt in den Sitz neben Valerie, ein verlegenes Grinsen auf dem Gesicht. »Habe ich viel verpasst?«, flüsterte er.
Valerie schüttelte den Kopf. »Nein, hat gerade erst angefangen.«
»Gut, danke.« Er fummelte ein abgegriffenes Notizbuch aus einer Hosentasche und holte von irgendwo einen halb abgekauten Bleistift hervor.
Auf dem Podium war die Begrüßung gerade vorbei und der erste Redner begann mit seinen Ausführungen über die Rolle der Technologie in der kapitalistischen Gesellschaft. Er sprach langsam und stockend und las seinen Text wörtlich von einem vorbereiteten Manuskript ab.
Willis beugte sich zu Valerie hinüber. »Ich fürchte, Holmes hat sich getäuscht. Hier werden wir nicht viel weiterkommen«, flüsterte er.
»Vielleicht wird es ja noch besser«, erwiderte sie.
»Macht euch keine großen Hoffnungen«, sagte der Mann neben ihnen, der ihren Wortwechsel mitbekommen hatte. »Ich kenne die Typen da unten. Allesamt Theoretiker.«
»Und warum sind Sie dann hier?«, gab Willis zurück.
»Die Pflicht«, grinste er.
Einige Zuhörer in den Reihen vor ihnen drehten sich um und warfen ihnen böse Blicke zu. Seufzend lehnte sich Willis in seinem unbequemen Sitz zurück. Sie vergeudeten hier nur ihre Zeit.
Nachdem der erste Redner unter viel Beifall geendet hatte, ergriff eine Frau das Wort. Sie stellte sich als »Zeitphilosophin« vor. Das klang schon interessanter. Willis’ Stimmung stieg wieder ein wenig, allerdings nur, um nach ein paar Minuten erneut zu sinken. Auch wenn sie besser reden konnte als ihr Vorgänger, so waren die Ausführungen der Frau ebenfalls reine Theorie. Sie begann mit einer Darstellung des Zeitbegriffs bei Heidegger, um anschließend auf die Bedeutung der Zeit für die menschliche Existenz einzugehen. Immerhin streifte sie den Zeithandel von Tempus Fugit am Ende ihres für Willis größtenteils unverständlichen Vortrags.
»Wer mit Lebenszeit handelt, handelt mit dem Leben selbst. Das in die Welt gefallene Sein wird dadurch seiner metaphysischen Bedeutung beraubt und die Zeit als essenzielle Konstituente der menschlichen Existenz zu einer bloßen Commodity degradiert.«
Valerie unterdrückte nur mühsam ein Gähnen. Der Mann, der schon lange damit aufgehört hatte, sich Notizen zu machen, grinste. »Wartet ab, es kommt noch schlimmer.«
Er sollte recht
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