Rebellin unter Feen
Klinge!«, sagte Winka, als Klinge wieder neben ihr Platz genommen hatte. »Was wirst du dir wünschen?«
»Das weiß ich noch nicht.« Klinge befühlte den Anhänger mit den Fingern. Linde, die an Winkas Schulter fast eingeschlafen war, wurde wieder wach und streckte ihre kleine Hand danach aus. »Aber es fällt mir bestimmt etwas ein.«
»Man hätte meinen können, sie wollte uns helfen«, sagte Winka am folgenden Morgen. »Jetzt brauchst du nur noch um ein, zwei Tage Urlaub zu bitten, und sie muss ihn dir gewähren.« Sie begegnete Klinges Blick und fügte hastig hinzu: »Nur wenn du willst natürlich. Es ist dein Geschenk, also können wir dir schlecht Vorschriften machen …«
»Nein, du hast vollkommen recht«, sagte Klinge. »Nur so komme ich fort. Aber wenn die Königin mich fragt, was ich mit meiner Zeit anfangen will? Dann brauche ich eine Ausrede.«
»Ich habe eine«, sagte eine Stimme, und Klinge hob den Kopf. Dorna stand in der Tür und lächelte zufrieden. Sie war gewöhnlich nicht zu überhören, doch hatte sie ihre einstige Fähigkeit als Jägerin, sich bei Bedarf lautlos anzuschleichen, offenbar nicht verloren. »Sag ihr, du würdest nach anderen Feen suchen. Was du in gewisser Weise auch tust.«
»Was für andere Feen?«, fragte Klinge.
»Die, nach denen die Königin selbst schon seit Jahren sucht. Nur kann sie die Eiche nicht verlassen, und ihre Zauberkraft reicht nicht beliebig weit. Warum, glaubst du, verbringt sie so viel Zeit mit den Büchern ihrer Bibliothek? Sie sucht nach einem Hinweis darauf, wo der Rest unseres Volkes sein könnte, also die Feen, die noch zaubern können.«
»Um dann mit ihnen auszuhandeln, wie wir unsere Zauberkraft zurückbekommen können?«, fragte Klinge. Langsam wurden ihr die Zusammenhänge klar, und sie begriff auch, warum Winka und Dorna der Königin trauten: Wenn Amaryllis an der großen Spaltung schuld gewesen wäre, warum setzte sie dann etwas daran, sie ungeschehen zu machen?
Winka nickte. »Aber das viele Lesen strengt sie an. Ich habe Hasenglöckchen zu Baldriana sagen hören, dass die Königin den ganzen Tag und die halbe Nacht mit Lesen verbringt und bestimmtnicht dreihundertundfünfzig wird, wenn sie so weitermacht. Hasenglöckchen klang sehr besorgt – und sie beobachtet die Königin mehr als sonst jemand, sie muss es also wissen.«
»Ich weiß, was du jetzt gleich einwenden wirst«, sagte Dorna, bevor Klinge den Mund aufmachen konnte. »Du vermutest, die Königin könnte etwas mit der Spaltung zu tun haben und will vielleicht nur Wiedergutmachung leisten. Aber bevor du etwas gegen sie sagst, solltest du das hier lesen.« Sie zog ein zusammengerolltes Pergament aus dem Ärmel und hielt es Klinge hin.
Klinge nahm es. »Was ist das?«
»Lies einfach.«
Klinge rollte das Pergament vorsichtig auf und legte es sich auf die Knie. Es war mit einer krakeligen, verblichenen Schrift bedeckt.
Seit Jahren quälen mich Vergessen und Verwirrung, und meine Gedanken wandern unstet von einem Augenblick zum anderen. Ich bin wie so viele meiner Schwestern dankbar, dass ich mich wenigstens an meinen wahren Namen erinnere. Doch die grausame Schweigekrankheit hat mir meine verlorene Jugend wiedergebracht und jetzt, an der Schwelle des Todes, erinnere ich mich an alles.
Ich erinnere mich an eine Zeit, als magische Kraft meine Adern durchströmte, als mein Kopf noch klar war und meine Hände Dinge formten, die schön waren und neu. Ich erinnere mich, wie es war, ein Ziel zu haben und zu wissen, dass mein Leben nicht sinnlos ist. Ich erinnere mich an Kunst, Freundschaft und Lachen – die Dinge, die das Leben lebenswert machen. Doch wir haben sie verloren, vielleicht für immer, und die Eiche, die ich einst so liebte, ist kein Zuhause mehr, sondern ein Gefängnis.
Ich liefere meinen Leib der Kälte aus, um meinem Volk einen letzten Dienst zu erweisen. Denn wenn ich noch länger warte, verschlingt das Schweigen mich ganz und ich kann den anderen nichts mehr geben. Möge die große Gärtnerin meiner Eitochter, wenn sie überlebt, gnädig sein. Möge meine Eitochter mit dem Mut gesegnet sein, der mir fehlt, und unser Volk von seinen Fesseln befreien. Ich grüße von Herzen Winka, meine getreue Schülerin und mein Herzenskind. Königin Amaryllis hat alles in ihrer Macht Stehende getan, um uns zu helfen, ihr gebührt meine Hochachtung. Den anderen Feen, die vielleicht nie wissen werden, was sie verloren haben, gehört mein tiefstes Mitgefühl. Lebt
Weitere Kostenlose Bücher