Rebellische Herzen
schauten gemeinsam in das Buch, während Charlotte immer schneller vorlas.
Leila hingegen saß mit müdem Gesicht auf dem Boden und studierte das Teppichmuster. Auf einmal hob sie den Kopf und fragte: »Lady Miss Charlotte, darf ich jetzt
Mama zu
dir sagen?«
Robbie wies seine kleine Schwester zurecht: »Leila, zum letzten Mal, gib endlich Ruhe. Ich will wissen, wie es weitergeht.«
Leila ließ sich eingeschnappt auf den Teppich fallen, und Charlotte wirkte völlig erstaunt. »Natürlich darfst du
Mama
zu mir sagen. Das würde mich sehr freuen.«
Adorna bewegte sich und Charlotte wurde ihrer gewahr. Auch Robbie bemerkte seine Großmutter und ließ sich missmutig neben Leila auf den Teppich fallen. Leila grinste und trommelte mit den Absätzen aufs Parkett.
»Darf ich hereinkommen und zuhören?« Adorna hatte nicht vorgehabt, dazubleiben, aber die häuslichen Angelegenheiten konnten ein paar Minuten warten und sie hatte Verständnis für Robbies Ungeduld.
Charlotte nahm Adornas Besuch widerspruchslos hin, aber sie nahm derzeit schlichtweg alles widerspruchslos hin. Es schien, als habe das Chaos vor der Hochzeit niemals stattgefunden und Charlotte gab sich als die brave Ehefrau, die Wynter sich gewünscht hatte. »Natürlich, Mutter, wir freuen uns, dich hier zu haben. Robbie« – Charlotte tippte ihm auf die Schulter –, »hole deiner Großmutter einen Stuhl her. Sie möchte sicher auch das Ende der Geschichte hören.«
Robbie lachte Adorna an und stellte ihr, neben Charlotte, einen Stuhl zurecht. Seit der Hochzeit hatten er und Adorna sich miteinander arrangiert. Robbie verzichtete darauf, Adornas Wandbehänge mit dem Messer zu traktieren und Adorna tat so, als ob sie nicht bemerkte, wenn Robbie sich davonmachte, um mit seinen neuen Freunden zu spielen, zu denen auch ein einigermaßen kleinlauter Alfred gehörte, der keine Witze mehr über anderer Leute Akzent oder Herkunft machte.
Die beiden Jungs hatten viel daraus gelernt, aber wieder einmal war es Leila, die alleine blieb.
Adorna setzte sich und tat, als höre sie zu. In Wirklichkeit beobachtete sie Leila. Leila, die offen zur Schau trug, dass die doofe Geschichte sie nicht interessierte. Leila, die mit ihrem Holzpferd spielte, sich aber nie darüber beschwerte, dass ihre Reitstunden wieder einmal verschoben worden waren.
Leila. Menschen gaben Adorna selten Rätsel auf, aber aus Leila wurde sie nicht schlau. Sie verbarg etwas, da war sich Adorna sicher. Aber was? Was war das für ein Geheimnis, das ein Mädchen ihres Alters vor allen, die sie liebten, verbergen konnte? Was ließ sie verstohlen lächeln, wenn sie sich unbeobachtet fühlte? Warum sprach sie von
Zuhause,
wenn sie von EI Bahar erzählte? Und warum stibitzte sie frisch gebackene Brötchen, wickelte sie in ein Taschentuch und nahm sie mit nach oben?
Adorna würde es herausfinden – aber erst nach dem Sereminianischen Empfang.
Während Adorna noch über ihre rätselhafte Enkelin nachdachte, hatte Charlotte zu Ende gelesen, und Robbie betrachtete seine Großmutter erwartungsvoll.
»Sehr schön«, rief Adorna schnell. »Wenn die Geschichten alle so spannend sind, dann werde ich das Buch noch selber lesen.«
»Das würde ich auch machen«, sagte Robbie. »Aber ich tu's nicht. Weil ich es lieber mag, wenn … M-Mama vorliest.«
Charlotte strahlte gerührt und umarmte Robbie.
Leila setzte sich auf.
»Ich
wollte sie Mama nennen!«
Charlotte streckte ihre Arme nach Leila aus. »Ich bin doch euer beider Mama.«
Leila ging zu Charlotte und ließ sich umarmen, aber sie zappelte die ganze Zeit nervös herum, wie ein Rennpferd, das den Startschuss nicht erwarten konnte.
»Charlotte, meine Liebe, weißt du eigentlich irgendetwas über Seremina?«, fragte Adorna.
»Sicher, ja. Wir alle.« Sie setzte ihre Gouvernantenmiene auf. »Als wir den Kontinent durchgenommen haben, sind wir auch auf Seremina gestoßen. Ein kleines Land in den Pyrenäen, an der Grenze zwischen Frankreich und Spanien. Leila, wie heißt die offizielle Landessprache?«
Leila schniefte entnervt, gab aber folgsam Antwort: »Die offizielle Landessprache ist Baminianisch.«
»Robbie, wie heißt das Herrscherpaar?«
»In Seremina herrschen König Danior und Königin Evangeline, und -«
Leila unterbrach: »Warum kannst du nicht unsere Gouvernante bleiben, ich will keine neue.«
Charlotte war etwas durcheinander und holte tief Luft. »Ich werde eure Schulstunden schon noch beaufsichtigen.«
»Aber warum kannst du uns nicht
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