Recht und Gerechtigkeit: Ein Märchen aus der Provinz (German Edition)
Bültmann.
Dieser siebenundsechzig Seiten starke Befangenheitsantrag beinhaltete eine ausführliche Argumentation, warum »der verständige Angeklagte« Jörg Kachelmann »besorgt sei«, dass diese beiden Richter ihm gegenüber im vorliegenden Verfahren nicht neutral eingestellt seien. Im Folgenden zitiere ich zumindest teilweise aus dieser Begründung, denn dieser Befangenheitsantrag ist ein wunderbares Beispiel für die zu Beginn dieses Kapitels aufgezeigten Probleme und Mechanismen.
Erstens:
Es gab soziale und örtliche Verbindungen des Vorsitzenden Richters Seidling zu der Familie der Anzeigeerstatterin. Die Schwetzinger Zeitung enthielt am 21. Juli 2010 den auf Seite 303 wiedergegebenen Ar tikel. Aufgrund dieses und weiterer Presseberichte hatte die Verteidigung Einblick in die Vereinsregister des Turn- und Sportvereins 1895 Oftersheim und des Turnvereins Schwetzingen 1864 und dessen Website genommen und in ihrem Befangenheitsantrag folgende Feststellungen gemacht:
• Der Vater der Nebenklägerin, Herr Walter Dinkel, war laut Eintragung im Vereinsregister des AG Schwetzingen vom 31. März 1977 bis zum 1. Juli 1987 1. Vorsitzender des TV 1864 und war am 3. März 2008 für seine sechzigjährige Vereinsmitgliedschaft geehrt worden.
• Am 20. Oktober 1987 wurde der Vorsitzende Richter Michael Seidling laut Vereinsregister Geschäftsführer des TSV Oftersheim und ist seit dem 17. November 1998 Vorstandsmitglied beim TSV Oftersheim und zuständig für Recht und Sport. Zuvor war er Zweiter Vorsitzender des Vereins.
• Marita Seidling, Michael Seidlings Ehefrau, wurde am 9. Juli 2010 für ihre fünfundzwanzigjährige Mitgliedschaft auf der von Seidling geleiteten Jahreshauptversammlung des Vereins mit der Ehrenadel in Silber geehrt. Dazu im Befangenheitsantrag:
»Herr Vorsitzender Richter am Landgericht Seidling ist auch Geschäftsführer der gemeinsamen Handballspielgemeinschaft des TSV Oftersheim mit dem TV Schwetzingen. Es ergibt sich also, dass die Eheleute Seidling bereits in der Amtszeit des Herrn Dinkel Mitglied als Vorsitzender des TV Schwetzingen Mitglieder beim TSV Oftersheim waren und der Vorsitzende Richter am Landgericht Seidling sich durch sein Engagement bewährt hatte, sonst wäre er von der Mitgliederversammlung nicht als Geschäftsführer gewählt worden […] Ferner ergibt sich, dass der abgelehnte Vorsitzende Richter als Geschäftsführer der Spielgemeinschaft Oftershei m / Schwetzingen auch in den TV Schwetzingen integriert ist, dem Walter Dinkel als früherer langjähriger Vorsitzender, also als prominentes und allseits bekanntes Mitglied angehört.«
Zudem gibt es in Karl-Heinz Urschel noch eine Drittperson, die Funktionen in beiden Vereinen wahrnahm: als sportlicher Leiter bei der Handballgemeinschaft, bei der Richter Seidling laut Antrag der Verteidigung Geschäftsführer ist, und beim TV Schwetzingen als Mitglied seit 1958 und als Zweiter Vorsitzender. Zitat aus dem Antrag der Verteidigung:
»Herr Urschel ist also ein langjähriger gemeinsamer Bekannter einerseits des Herrn Vorsitzenden Richters am Landgericht Seidling und andererseits auch des Vaters der Nebenklägerin. Davon jedenfalls muss Herr Kachelmann als vernünftiger Angeklagter ausgehen.«
• Herr Seidling ist neben seinem Amt als Vorsitzender Richter am Landgericht und neben seiner ausführlichen Vereinstätigkeit seit der Kommunalwahl von 2009 auch noch Mitglied des Oftersheimer Gemeinderats für die »Freie Wählervereinigung Oftersheim« ( FWV ).
• Die Ortsvereine Schwetzingen und Oftersheim der FWV sind mit anderen im »Kreisverband Rhein-Neckar e.V.« der Freien Wähler verbunden, welcher regelmäßig gemeinsame Veranstaltungen durch führt.
• Am 18.7.2010 wurde der Oberbürgermeister der Nachbargemeinde Schwetzingen, René Pöltl, in der Schweizer Sonntagszeitung zu seiner Haltung zur Anzeigeerstatterin folgendermaßen zitiert: »Ich halte sie für äußerst glaubhaft.« Warum ein Oberbürgermeister sich bemüßigt fühlt, sein Amt zur Meinungsmache missbrauchend, so etwas von sich zu geben in einem laufenden Verfahren und ohne irgendein spezifisches Wissen, das ihn dazu befähigen könnte, sollten sich die Schwetzinger Wähler bei den nächsten Wahlen fragen.
Aufgrund seiner oben genannten Mitgliedschaft bei den Freien Wählern Oftersheim, einem Nachbarort Schwetzingens, ist anzunehmen, dass Herr Seidling den Oberbürgermeister persönlich kennt. Zitat aus dem Antrag der Verteidigung:
»Es gibt also
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