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Recht und Gerechtigkeit: Ein Märchen aus der Provinz (German Edition)

Recht und Gerechtigkeit: Ein Märchen aus der Provinz (German Edition)

Titel: Recht und Gerechtigkeit: Ein Märchen aus der Provinz (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Kachelmann , Miriam Kachelmann
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ausblendet, denen ein Richter genauso ausgesetzt ist wie ein nicht mit derartig überhöhten Anforderungen belasteter Angestellter in der Wirt schaft.
    Ist zur Entscheidung eines Befangenheitsgesuchs eine andere Kammer desselben Landgerichts zuständig, sieht die Sache nicht besser aus: Auch die Mitglieder einer anderen Kammer kennen die betroffenen Kollegen, arbeiten mit ihnen möglicherweise in anderen Verfahren zusammen und essen gemeinsam mit ihnen in der Kantine zu Mittag.
    Es kommt hinzu, dass Richter es als Affront auffassen, wenn ein Befangenheitsgesuch Erfolg hat, denn damit wird ihre richterliche Neutralität angezweifelt, die sie schon von Berufs wegen im Blut haben müssen – von Gottes Gnaden quasi, denn eine entsprechende Ausbildung ausdrücklich zur Neutralität haben sie nicht genossen. Eine solche Ausbildung gibt es nicht in Deutschland, und Selbstreflexion ist eine Fähigkeit, die in der Richterschaft genauso selten ist wie in der Normalbevölkerung. Den Mut, einem Befangenheitsantrag stattzugeben und damit einen Kollegen einer Demütigung auszusetzen (die zwar keine ist – es geht schließlich nur um die Besorgnis der Befangenheit –, aber als solche empfunden wird), muss man als beisit zender Richter erst einmal aufbringen. Zumal, wenn einem das Gleiche als Revanche später ebenfalls passieren könnte.
    Als »Dank« für eine positive Bescheidung könnte es durchaus sein, dass die Kammer, die über den Befangenheitsantrag der Verteidigung entschieden hat, den Fall selbst verhandeln muss. Denn falls die Verhandlung der Kammer mit den abgelehnten Richtern platzen sollte, wird der Fall mit anderen Richtern neu verhandelt. Wegen der allgemeinen Überlastung der traditionell unterbesetzten Gerichte und Behörden will das natürlich niemand riskieren.
    Lässt sich ausschließen, dass bei der Entscheidung auch solche ganz privaten Überlegungen eine Rolle spielen? Die Strafprozessordnung zumindest hat darauf keine Antwort.
    Ein Angeklagter hat einen Anspruch auf einen neutralen Richter, das gehört unverzichtbar zum »fair trial«. Befangenheitsanträge werden jedenfalls regelmäßig abgelehnt, was zumindest der Aufrechterhaltung eines angenehm lauwarmen Klimas im Gericht dient, nicht aber den Rechten eines Angeklagten. Dabei könnte man das ganz leicht ohne unvertretbare zeitliche Verzögerungen und ohne Kostenfolgen ändern: Man müsste nur die Entscheidung über die Frage der Befangenheit eines Richters aus seinem eigenen Gericht woandershin verlegen. Würde sie an ein gleichrangiges Gericht an einem anderen Ort oder an die nächsthöhere Instanz delegiert, hätte man diesen Teufelskreis mit einfachen Mitteln durchbrochen. Die Entscheidungen über die Befangenheit würden dann zumindest nicht mehr eng mit dem Sozialleben eines Richters verwoben sein, und sie fielen auch nicht unter Abwägung zwischen üblicher oder Mehrarbeit, sondern könnten, wie es das Gesetz vorschreibt, lediglich die juristischen Aspekte betrachten. Es wird Richtern auch so schon schwer genug fallen, die Perspektive eines Angeklagten einzunehmen, wie sie es von Gesetz wegen tun müssen, aber ohne Fantasie nicht schaffen können; da sollte man sie nicht noch zusätzlich mit vermeidbaren Konflikten belasten.
    In unserem Fall gab es zwei Befangenheitsanträge. Einer wurde gleich zu Beginn der Hauptverhandlung von Rechtsanwalt Birkenstock gegen zwei Richter (Vorsitzender Michael Seidling und Berichterstatterin Daniela Bültmann) der 5. Strafkammer Mannheim gestellt, der andere gegen die Kammer mitten im Prozess.
    Wenn einem Antrag zur Besorgnis der Befangenheit stattgegeben wird, heißt das nicht etwa, wie viele unqualifizierte Journalisten immer wieder schreiben, dass man dem Richter, gegen den sich der Antrag richtete, tatsächlich eine Befangenheit nachgewiesen hätte, sondern lediglich, dass andere Richter befunden haben, dass es aus der Sicht des verständigen Angeklagten Grund zur Besorgnis dazu gab. Nicht mehr und nicht weniger. Denn schon die Besorgnis und der böse Anschein sollten in einem fairen rechtsstaatlichen Verfahren keinen Platz haben.
    Der erste Befangenheitsantrag
    Am 4. September 2010, zwei Tage vor Beginn der Hauptverhandlung am 6. September, übermittelte Jörgs damaliger Verteidiger Dr. Birkenstock vorab per Telefax und E-Mail ein Ablehnungsgesuch im Namen von Jörg gegen den Vorsitzenden Richter der 5. Großen Strafkammer Mannheims, Michael Seidling, und deren Berichterstatterin Richterin Daniela

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