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Recht und Gerechtigkeit: Ein Märchen aus der Provinz (German Edition)

Recht und Gerechtigkeit: Ein Märchen aus der Provinz (German Edition)

Titel: Recht und Gerechtigkeit: Ein Märchen aus der Provinz (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Kachelmann , Miriam Kachelmann
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ist schlicht ein systemischer Fehler, Menschen, die aus Uni und Referendariat kommen, auf die Bürger loszulassen, ohne sie gleichzeitig ausreichend psychologisch geschult zu haben. Es ist, als würde man einen Chirurg nur kurz und knapp die Theorie und Medizingeschichte lehren, ihn dann aber zu seiner ersten OP am offenen Herzen schicken, ohne dass er zuvor jemals ein Skalpell in der Hand gehalten hätte.
    Die Juristen und Polizisten leben sich in ihren Beruf also irgendwie ein und übernehmen dabei oftmals die Mechanismen ihrer Ausbilder. Wenn ein Ausbilder bei seiner Stellungnahme zu einem Revisionsantrag des Verteidigers, ohne auf den individuellen Fall einzugehen, immer »copy« und »paste« macht von dem einen Schreiben, das er irgendwann einmal vor Jahren verfasst hat (oder das womöglich noch von seinem eigenen Ausbilder stammt) und in dem lediglich steht, er halte den Revisionsantrag für unbegründet und beantrage deshalb, den Antrag abzulehnen (wie man es im Blog eines empörten Rechtsanwalts lesen konnte), dann wird es der junge Jurist ihm gleichtun, denn warum sollte er sich mehr Arbeit machen als der Meister? So verkommen Stück für Stück Verfahrensabläufe zu Floskeln, die vom Gesetzgeber ursprünglich einmal aus sinnvollen Gründen eingesetzt worden waren. Hauptsache erledigt.
    Die sogenannten Erledigungszahlen, die die Anzahl der in einem Jahr abgeschlossenen Verfahren bezeichnen, sind Gradmesser des beruflichen Erfolgs, aber sie sind kein Indikator für gute Arbeit im Sinne des Rechtsstaats – auch wenn sie oft damit verwechselt werden.
    Und die Polizisten, die als erste Vertreter des Staates mit einem Zeugen Kontakt haben und deren Arbeit die Grundlage für die Ermittlungen eines Staatsanwalts ist und somit einen nicht unwesentlichen Teil des Fundaments eines gerichtlichen Urteils darstellt? Auch ihre Ausbildung ist bei Weitem nicht immer auf dem neuesten wissen schaftlichen Stand, den die Forschungen in Psychologie und Kriminalistik mittlerweile erreicht haben. Anstatt nach aussagepsychologischen Regeln vorzugehen und speziell entwickelte Fragetechniken zu befolgen, wird teilweise längst überholtes Wissen gelehrt. So ist etwa die spezielle Befragungstechnik bei Sexualstraftaten nicht in jeder polizeilichen Ausbildung Pflicht. Zudem werden in Baden-Württem berg die Polizisten nicht zu Spezialisten ausgebildet; ihre Spezialisierung sollen sich die Beamten später selbstständig in Lehrgängen erarbeiten – nur wurden diese laut einem Bericht der Rhein-Neckar-Zeitung im Rahmen der Sparmaßnahmen im Jahr 2012 gestrichen. Danach darf in Baden-Württemberg derzeit kein Polizist auf Lehrgang gehen. Würde man, wie es in der Medizin üblich ist, ein für alle gleiches Grundstudium ansetzen mit nachfolgendem Hauptstudium, das dann eine Spezialisierung zuließe, hätte man von Anfang an Fachleute in den jeweiligen Bereichen – das würde dem Land auch einiges an Geld sparen, ohne einen nicht hinnehmbaren Qualitätsverlust der Polizei zu verursachen, wie es derzeit der Fall ist.
    Faustregeln und Bauchgefühl sind deshalb eher die Regel als die Ausnahme in Polizeirevieren. Normalerweise muss jeder Polizist, der sich nicht spezifisch weitergebildet hat oder einem Fachkommissariat angehört, durch Learning by Doing seine eigene Technik finden, wie er mit Zeugen und Beschuldigten umgeht. Da der Mensch jedoch nachweislich ein eher schlechter Lügendetektor ist, weil er von Natur aus auf die falschen Signale achtet, entsprechen diese »eigenen Techniken« meist nicht den Erkenntnissen der psychologischen Forschung. So kann es dazu kommen, dass Polizisten, statt aufzuklären, eher Spuren verwischen, was besonders dann schwer wiegt, wenn das einzige Beweismittel die belastende Aussage eines Zeugen oder einer Zeugin ist.
    Da wird mit eigenen Worten zusammengefasst, wo wörtlich protokolliert werden sollte (nicht nur bei meiner eigenen polizeilichen Aussage ist das zu meiner großen Überraschung so geschehen), und die Zeugin geschont, wenn Tränen fließen, anstatt genau nachzubohren – ein falsches Mitleid, das allzu oft mit Empathie verwechselt wird und das sich am Schluss zwangsläufig zulasten auch von Unschuldigen auswirkt.
    Denn warum weint eine Zeugin? Weil sie von den Erinnerungen an die berichtete Tat überwältigt wird, weil sie eine Trennung nicht ertragen kann (und deshalb von einer nicht stattgefundenen Tat berichtet), oder weil sie Angst hat, man komme ihrer erfundenen Geschichte auf die Spur?

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