Recht und Gerechtigkeit: Ein Märchen aus der Provinz (German Edition)
Anklage bei einem besonnenen Gericht mit einem Vorsitzenden landet, der zu einer vernünftigen Prozessführung im Sinne der Strafprozessordnung fähig ist und nicht, wie in unserem Fall, die Aussage der Belastungszeugin manipulativ erst kurz vor der Urteilsverkündung einplant, wo doch das Gegenteil aus dramaturgischen und ökonomischen Gründen sinnvollerweise üblich ist (was in der Strafprozessordnung aber nicht vorgeschrieben ist, die eben einen vernünftig agierenden Vorsitzenden voraussetzt, wenn sie ihm schon die Befugnis zur alleinigen unanfechtbaren Verhandlungsleitung einräumt);
• dass eine Verurteilung aufgrund von über vernünftige Zweifel erhabenen Beweisen erfolgt und nicht aus einem zur Überzeugung gewordenen Bauchgefühl heraus oder weil der Richter den Verteidiger nicht leiden kann;
• dass der Richter nicht zur Schonung seiner befreundeten Rich terkollegen, die möglicherweise einen berechtigten, von der Ver teidigung oder Staatsanwaltschaft gestellten Befangenheitsantrag abgelehnt haben, oder aus Gründen der Eitelkeit und aus Angst vor Aufhebung eines wackeligen Urteils in seiner schriftlichen Urteilsbegründung dem Bundesgerichtshof einen »falschen Film« vorspielt. Und so den Bundesgerichtshof täuscht und ihn zugleich als Kontrollinstanz aushebelt, weil der mangels Wort- oder Inhaltsprotokoll der Hauptverhandlung nicht erkennen kann, ob die Beweiswürdigung tatsächlich rechtsfehlerfrei ist.
Aber ist es einer sich selbst als zivilisiert bezeichnenden Gesellschaft im Europa des einundzwanzigsten Jahrhunderts würdig, einen wichtigen Teil des Fundaments unseres Rechtsstaats auf eine Aneinanderreihung von bloßen Hoffnungen aufzubauen?
Notwendige Änderungen
Gesetze, die die Hoffnung durch Gewissheit ersetzen, gibt es (noch) nicht. Naive Gesetze und unzulängliche Ausbildung sind der größte Feind unseres Rechtsstaats. Da verwundert es nicht, dass das Sprichwort »Auf hoher See und vor Gericht ist man in Gottes Hand« immer noch zutrifft.
Wir brauchen neue Gesetze, die all diese Hoffnungen zu Verpflichtungen machen; Gesetze, die sich an den Erkenntnissen der Psychologie und Kriminologie orientieren.
Dazu gehört eine entsprechend angepasste Ausbildungsordnung für Juristen, denn auch Juristen, die nicht in den Staatsdienst gehen, profitieren von einem psychologisch-sozialen Basiswissen. Es kann so schwer nicht sein, das Studium der Rechtswissenschaft zu ändern, schließlich gibt es schon jetzt viele Universitäten, die sowohl eine psychologische als auch eine juristische Fakultät haben. Der bereits existierende Studiengang »Psychologie als Nebenfach« für Juristen muss zum Pflichtfach werden und spezifisch für Juristen ausgelegt sein. Wenn es genug Zeit für das Fach »Rechtsgeschichte« gibt, dann muss es auch genug Zeit geben für ein Fundament an Menschenkenntnis, die man täglich im Umgang mit Mandanten, Zeugen und Tatverdächtigen, ja sogar mit den eigenen Kollegen braucht.
Videomitschnitte, aber zumindest Wortprotokolle müssen grundsätzlich und ohne Ausnahme bei allen Verhandlungen in Strafsachen eingeführt werden; in jeder Tatsacheninstanz und bei Sexualdelikten sollten Videovernehmungen schon im Ermittlungsverfahren Pflicht sein. Voraussehbare soziale Befangenheiten im beruflichen Umfeld sollten vermieden werden, um die Juristen nicht in unnötige Gewissenskonflikte zu stürzen wie beispielsweise bei einer Entscheidung über die Befangenheit eines Richters am selben Gericht oder bei der Entscheidung über eine Dienstaufsichtsbeschwerde. Entweder sollte die nächsthöhere Instanz oder ein örtlich entferntes, gleichrangiges Gericht für die Entscheidung zuständig sein. Das würde zugleich verhindern, dass Vorsitzende ihre Befugnis zur Verhandlungsleitung missbrauchen: Ihre durch die Planung der Hauptverhandlung für den Angeklagten ersichtliche Voreingenommenheit würde per Befangenheitsantrag effektiv überprüft werden können.
Polizisten müssen in ihrer Ausbildung sinnvolle und neueste Vernehmungstechniken erlernen, psychologische Grundkenntnisse erlangen und sich stets auf diesen Gebieten fortbilden, sodass sie nicht von jeder drittklassigen Schauspielerin und halb schlauen Kriminellen über den Tisch gezogen werden können. Die wichtige Erstvernehmung sollte zumindest in der Form einer Tonbandabschrift (was bei Glaubhaftigkeitsgutachten nicht umsonst vorgeschrieben ist) vorliegen, auch um Aussagepsychologen geeignetes Material an die Hand geben zu
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