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Recht und Gerechtigkeit: Ein Märchen aus der Provinz (German Edition)

Recht und Gerechtigkeit: Ein Märchen aus der Provinz (German Edition)

Titel: Recht und Gerechtigkeit: Ein Märchen aus der Provinz (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Kachelmann , Miriam Kachelmann
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Tränen beweisen gar nichts. Trotzdem glauben offenbar viele Polizeibeamte und Justizangehörige immer noch – und das gegen jegliche wissenschaftliche Erkenntnis –, dass Tränen ein Indikator für die Wahrheit der erhobenen Beschuldigung seien. Der von der feministisch orientierten Aussagepsychologin Luise Greuel in ihrer Dissertation angemahnte »Behandlungskomfort« für »Opferzeuginnen« kann kritische Hinterfragungen von Zeugenaussagen geradezu als No-Go diskreditieren. Hinzu kommen die von Opferverbänden und Psychotraumatologen gern ins Feld geführten Schlagworte von einer »Sekundärviktimisierung« und »Retraumatisierung« durch das Verfahren, die mittlerweile ebenfalls zu einer Bedrohung für Ermittlungen herangewachsen sind, die diesen Namen noch verdienen.
    Wenn allein Aussage gegen Aussage steht und die belastende Aussage nicht gründlich auf Widersprüche und tatsächliche Unmöglichkeiten abgeklopft und der Anzeigeerstatter nicht unter dem Gesichtspunkt von Auto- oder Fremdsuggestion, psychischen Störungen oder Falschbelastungsmotiven geprüft wird, dann besteht von vornherein ein Ungleichgewicht zwischen Belastungszeuge und Tatverdächtigem. Das zieht sich fortan unbemerkt durch die gesamte Ermittlungsakte, verfälscht die Ergebnisse und liefert den Staatsanwälten und Richtern eine unzuverlässige Grundlage für ihre Entscheidungen, ohne dass sie sich dieser Unzuverlässigkeit überhaupt bewusst sind. Es wird allzu oft vergessen, dass Staatsanwälte und Ermittlungsrichter die Belastungszeugin oft gar nicht persönlich kennenlernen, sondern aufgrund der von der Polizei vorstrukturierten Aktenlage entscheiden. Und wenn ein völlig ahnungsloser Polizeibeamter ohne Begründung in die Akte schreibt, dass ihm eine »Opferzeugin« glaubwürdig erscheine (wie nicht nur in Jörgs Fall geschehen), dann wird dieser Vermerk später Grundlage für einen Haftbefehlsantrag nach Aktenlage.
    Aber nicht nur Polizisten sind unzureichend vorbereitet auf die Anforderungen, die die Ermittlungen bei einem Sexualdelikt mit sich bringen. Zum Teil sind entsprechende Fachkommissariate wegen des geringen Fallaufkommens und allgemeiner Sparmaßnahmen schon gar nicht mehr vorhanden. Auch Staatsanwälten und Richtern fehlt oft das Handwerkszeug, das zur Bearbeitung solcher Fälle unbedingt notwendig ist.
    Wenn man Staatsanwalt oder Richter werden möchte, muss man ein Jurastudium nebst Erstem Staatsexamen absolvieren, danach folgt ein zwei- bis zweieinhalbjähriges Referendariat, in welchem verschiedene Stationen der Justiz (Zivilgericht, Strafgericht, Staatsanwaltschaft und andere) und eine Wahlstation nach persönlichem Interesse zu durchlaufen sind. Nach dem abschließenden Zweiten Staatsexamen wird man Staatsanwalt oder Richter auf Probe. Verläuft die Probezeit erfolgreich, erfolgt die Ernennung auf Lebenszeit – dies alles unter der Voraussetzung, dass man aufgrund der eigenen Examensergebnisse zu den besten des Jahrgangs gehört.
    Im Studium werden als Pflichtfächer allerdings nur juristische Disziplinen gelehrt, sämtliche Disziplinen des Rechts: Zivilrecht, Verwaltungsrecht, Internationales Recht, Strafrecht, Rechtsgeschichte und so weiter; psychologische oder sozialwissenschaftliche Kenntnisse wer den meist nur als freiwillige Wahlfächer vermittelt. Die jungen Leute, die frisch nach dem Zweiten Staatsexamen als Richter oder Staatsanwalt auf Probe in den Dienst einsteigen, Mitte bis Ende zwanzig sind und echte Fälle bearbeiten, wenn auch bei Staatsanwälten anfänglich noch unter den Augen eines Vorgesetzten, werden, was ihre Aufgaben als Vernehmer und Menschenkenner betrifft, ins kalte Wasser geworfen. Was sie an Menschenkenntnis nicht mitbringen, das fehlt eben, das müssen sie sich im Lauf der Amtszeit irgendwie aneignen, wie die Polizisten mit ihren »eigenen Techniken« – und zwangsläufig zulasten der Wahrheitsermittlung, von deren Gründlichkeit nicht selten Menschenleben abhängen.
    Der Vorgesetzte des jeweiligen Beamten wird sicher seine durch Lebenserfahrung gebastelten Rezepte haben, wie man mit diesem oder jenem Typ von Angeklagtem umgeht, oder einen »Instinkt« für Körpersprache entwickelt haben, den er für Glaubwürdigkeitsentscheidungen benutzt. Selten auf wissenschaftlicher Grundlage, aber dafür umso selbstbewusster. Und wenn es sich bei diesen Techniken um eine bloße Ansammlung von Vorurteilen handelt, die von einer Juristengeneration auf die nächste weitergegeben werden?
    Wie ist man

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