Recht und Gerechtigkeit: Ein Märchen aus der Provinz (German Edition)
einmal den beschwerlichen Weg nach Mannheim antreten und einen weiteren Tag Lebenszeit opfern zu müssen.
Außerdem hatte ich gehofft, dass sich nach dem Ende meiner Zeugenrolle früher oder später eine Möglichkeit ergeben würde, endlich mit Jörg reden zu können, um diese ganze Sache wie auch immer abschließen zu können. Mir schwebte vor, zumindest teilweise wieder ein normales Leben führen zu können, auch wenn ich wusste, dass ich, unabhängig vom Ausgang der Geschichte zwischen Jörg und mir, erst mit Abschluss des Prozesses wieder vollständig zur Normalität gelangen würde. Diese Chance auf Kommunikation wurde mir durch die erneute Ladung genommen, denn nun musste ich weiterhin darauf achten, dass man mir keine Voreingenommenheit zu seinen Gunsten oder Jörg Beeinflussung einer Zeugin vorwerfen konnte. Es war niederschmetternd. Das Prinzip der Endlosigkeit, das sich durch das gesamte Verfahren zog, war wieder einmal bestätigt worden.
Ich warf einen kurzen Blick auf Jörg, der traurig vor sich hinstarrte – warum, konnte ich nicht sagen, dazu gab es zu viele Gründe, traurig zu sein. Während meiner Vernehmung, das hatte ich aus dem Augenwinkel gesehen, war er aufmerksam gewesen, mit freundlichem Blick, und er hatte mir, ohne meine Ausführungen irgendwie zu kommentieren, offen zugehört.
Mir fiel beim Aufstehen mein Personalausweis aus der Hosentasche, den ich vorsichtshalber samt der Ladung mitgenommen hatte und den ich ohne den netten Hinweis von Professor Rothschild wohl dort verloren hätte. Dieser Vorfall kennzeichnet ein bisschen meine Verwirrtheit wegen der plötzlichen und unverhofften Entspan nung einerseits und dem dumpfen Gefühl der Endlosigkeit des Verfahrens andererseits. Gut, dass Kutsch da war. Wir aßen erst mal bei McDonald’s zu Abend. Auf seinem Telefon lasen wir die ersten Reaktionen in der Presse und deren rosarote Geschichtchen über den Prozesstag. Der Tag war vorbei, wir fuhren mit dem Auto in Richtung Koblenz, wo ich bei einem Cousin übernachtete. Ich war froh, zu jemandem zu fahren, der Familie war, bei dem ich mich entspannen konnte, weil ich mir das erste Mal an diesem Tag sicher sein konnte, dass man mir nichts Böses wollte.
Der 29. September 2010, der zweite Vernehmungstag, begann sehr ähnlich wie der erste. Mit dem Unterschied, dass mir alles schon seltsam vertraut war. Die Nervosität hielt sich in Grenzen. Sie resultierte dieses Mal aus der Furcht vor den Fragen der Staatsanwaltschaft, denn die standen ja noch aus. Und nachdem ich so gar nichts Belastendes erzählt hatte, würde die Staatsanwaltschaft sicherlich versuchen, mich irgendwie anzugreifen.
Wieder wurde die Öffentlichkeit ausgeschlossen, und Seidling eröffnete die Fragerunde mit einer kurzen Nachfrage zur Datumsangabe der ersten sexuellen Begegnung von Jörg und mir. Klasse Einstieg! Andererseits hatte er mich damit sofort wieder in die nötige Grundspannung versetzt. Die Fragen zogen sich ähnlich wie bei der ersten Vernehmung langsam und chronologisch durch die Beziehung, mit dem Unterschied, dass alle etwas besser gelaunt waren und selbst Frau Bültmann freundlicher wirkte. Sie lächelte zumindest öfter. Die Gutachter waren alle wieder da (die Tische waren ein wenig näher an die Zeugenbank gerückt worden, ansonsten war alles unverändert), der massige Franz saß wie eh und je vollkommen unbewegt statuenhaft auf seinem Stuhl, und Oltrogge schwatzte mit Oberstaatsanwalt Gattner. Birkenstock saß rechts auf der Verteidigerbank, neben ihm Jörg, daneben Schroth und ganz rechts Andrea Combé. Hinter mir saß wie schon zur letzten Vernehmung Frau Birkenstock, deren kräftiges Husten wie auch das Tuscheln der Staatsanwälte und das Räuspern von Herrn Birkenstock zur vertrauten Geräuschkulisse geworden waren. Auch die Schöffen guckten an diesem Tag wohlwollender von der Richterbank zu mir herunter. Stimmungsmäßig schien es ein besserer Tag im Saal 1 des Landgerichts Mannheim zu sein.
Ich war jedenfalls gelöster und konnte alles besser ertragen als noch am 15. September 2010. Nachdem die Kammer endlich mit ihren Fragen durch war, was noch einige Stunden in Anspruch nahm, war die Staatsanwaltschaft an der Reihe. Oltrogge fragte nichts. Man hatte mir, auch wenn die Wahrnehmung der Öffentlichkeit sicher umgekehrt war, den »bösen Bullen« zugeteilt: Gattner. Er leitete seine Fragen mit einem Lächeln ein, das wohl sympathisch wirken und eine Ebene des Vertrauens eröffnen sollte. Seine Stimme
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