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Recht und Gerechtigkeit: Ein Märchen aus der Provinz (German Edition)

Recht und Gerechtigkeit: Ein Märchen aus der Provinz (German Edition)

Titel: Recht und Gerechtigkeit: Ein Märchen aus der Provinz (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Kachelmann , Miriam Kachelmann
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ab. Daten im Sinne von Uhrzeit und Tag sind meist nicht das, was an einem Ereignis wichtig ist – folglich merkt man sie sich schlechter. Ich hatte angeboten, dass ich zu Hause in meinem Planer nachschauen könne (wenn man alte Termine liest, kann man oft besser abrufen, wann was ansonsten geschehen ist), aber dieses Angebot wurde nicht weiterverfolgt.
    »Sie haben meine SMS , das ist ja interessant«, entgegnete ich Frau Bültmann, nachdem ich mich gefasst hatte. Ich hatte das natürlich geahnt. Seit meiner eigenen polizeilichen Vernehmung hatte ich den durch viele indiskrete Presseveröffentlichungen »aus den Akten« bestärkten Eindruck, dass man in Mannheim und in Schwetzingen keine Rücksicht auf Privatsphäre nahm, auch dann nicht, wenn sie in keinerlei Beziehung zu den Ermittlungen stand. Dennoch wollte ich den Umstand, dass die Richter einen Ordner voll mit meinen privaten SMS vor sich liegen hatten und darin herumstöberten, zumindest einmal mit kritischem Unterton ausgesprochen haben. Frau Bültmann lächelte ein Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte, und nickte.
    Ich hatte nichts zu verbergen. Von Anfang an nicht, denn es gab nichts, das ich mit Jörg erlebt hatte oder von ihm wusste, das ihn auch nur ansatzweise belastet hätte, im Gegenteil. Das Einzige, das ich dem Gericht gern verborgen hätte, waren Dinge, die jeder Mensch gerne vor Fremden verbergen würde, nämlich meine Intimsphäre. Dennoch habe ich das nicht getan. Ich wollte ihnen den Gefallen einer Lüge nicht tun, denn dann hätten sie einen Grund gehabt, meine Ausführungen über Jörg nicht zu glauben und sie zu zerpflücken. Also habe ich jede auch noch so peinliche und unangenehme Frage beantwortet, und das erhobenen Hauptes – auch wenn es mir schwerfiel vor den Augen und Ohren von mehr als einem Dutzend Fremder. Hätte ich die Beantwortung einer Frage verweigert (das hätte Jörgs Verteidiger Birkenstock fordern müssen, vielleicht auch mein Zeugenbeistand) oder mir eine Notlüge ausgedacht, wäre das für meine Glaubwürdigkeit in den Augen der Richter fatal gewesen – schließlich war ich keine Belastungszeugin. Und dass nach Belastendem gesucht wurde, ergab sich aus der Art und Weise der Vernehmung.
    Frau Bültmann und ich sind an diesem Tag miteinander nicht warm geworden. Nach ihrem ersten Einwurf kam immer mal wieder eine scharfe Frage von rechts außen. Einmal machte sie den Versuch eines Kompliments, um mich dazu zu bewegen, ein psychologisches Urteil über Jörg abzugeben. Es ging um Jörgs seelischen Zustand, und sie wollte von mir wissen, wie ich die Verfassung des Angeklagten und seine Stimmung beurteilen würde. Als Psychologiestudentin wäre ich ja sozusagen eine »Fachfrau«, meinte sie und schenkte mir zum ersten Mal ein fast freundliches Lächeln. Ich sah zumindest, dass sie sich bemühte, es freundlich aussehen zu lassen. Ich antwortete nach einem kurzen Luftschnappen so trocken und bestimmt, wie ich es eben zustande brachte: »Ich bin im dritten Semester des Studiums der Psychologie. Ich bin mit Sicherheit alles andere als eine Fachfrau.«
    Ihr Vorhaben war zu offensichtlich, um darauf hereinzufallen. Was hatte sie sich erhofft? Dass ich mich geschmeichelt fühlte und mich freute, endlich mal ein bisschen aus meinem Studium erzählen zu können? Dass ich anfinge zu fachsimplen, dass man hier ja ein bisschen Schizophrenie erkennen könne, da ein bisschen Borderline und dort eine Spinnenphobie? Selbst wenn ich über diese Störungen Kenntnisse gehabt hätte: Wie käme ich dazu, mir als Studentin ein Urteil zu erlauben? Noch dazu in einem Gerichtsprozess? Ganz abgesehen davon, dass ein geliebter Mensch kein Studienobjekt ist …
    Ich verweigerte mich der Zumutung, meinen persönlichen Eindrücken von einem Menschen auch nur den Hauch einer fachlichen »Diagnose« zu verleihen, griff dabei aber indirekt Frau Bültmanns fachliche Kompetenz an. Der Richterin verging sogleich ihr Lächeln. Ich meine sogar, eine gewisse Empörung bei ihr erkannt zu haben.
    Da ich mir auf Anraten meines Anwaltes vorgenommen hatte, keinen offenen Krieg mit der Kammer zu führen und kein Verhalten zu zeigen, das als respektlos interpretiert werden konnte, beantwortete ich anschließend die Frage nach »der Verfassung des Angeklagten« unter dem Vorzeichen, was ich als ganz normaler Mensch bei Jörg wahrgenommen hatte. Frau Bültmann bedankte sich für diesen Dialog später mit einer Frage zu meinem aktuellen Gefühlsleben und ob Jörg und

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