Rechtsdruck
Hauptkommissar tief durch. »Nein, Sie haben mich leider
falsch verstanden, Frau Bilgin. Die drei sind ermordet worden.«
Die Frau wankte. »Das kann nicht sein. Sind Sie sicher, dass Sie von
meinen Eltern sprechen?«
»Ja, ganz sicher. Leider.«
»Meine Mutter und der kleine Emre sollen tot sein? Das ist der größte
Quatsch, den ich je gehört habe.«
»Nein, jeder Irrtum ist ausgeschlossen, so leid es mir für Sie tut.«
Nun realisierte sie, wovon der Kommissar tatsächlich sprach, und wurde
bleich im Gesicht. »Was ist mit ihnen passiert?«
»Sie wurden erschossen. Alle drei.«
Die Frau griff nach der Hand ihrer Freundin, ließ sie jedoch sofort
wieder los, ging einen Schritt auf die Polizisten zu und setzte sich in einen der
dunkelroten Designersessel, die um einen großen, runden Glastisch herum gruppiert
waren. Dann schlug sie die Hände vors Gesicht und fing an zu weinen.
»Wer hat denn den alten Fascho umgebracht?«, mischte Ramona Berner
sich ein.
»Ramona!«, schrie die Türkin. »Hör auf, so einen Unsinn zu sprechen.
Meine Mutter ist umgebracht worden. Und mein kleiner Bruder.«
»Frau Bilgin, wann haben Sie Ihren Bruder Kemal zum letzten Mal gesehen?«,
wollte Hain wissen.
Sie sah dem Polizisten entsetzt ins Gesicht. »Warum fragen Sie das?
Ist Kemal vielleicht auch umgebracht worden?«
»Nein, das vermutlich nicht«, stellte Lenz klar. »Trotzdem hätten wir
gerne von Ihnen gewusst, wann Sie ihn zuletzt gesehen haben.«
»Letzte Woche. Wir haben uns abends in der Stadt getroffen. Aber warum
fragen Sie mich nach ihm?«
»Es gibt Hinweise darauf, dass Ihr Bruder etwas mit dem Tod Ihrer Eltern
zu tun haben könnte.«
Sie brauchte ein paar Sekunden, bis sie die Brisanz in den Worten des
Kripobeamten begriffen hatte. »Sind Sie verrückt? Kemal soll …? Sie haben doch nicht
mehr alle Tassen im Schrank!«
Lenz hob beschwichtigend die Arme. »Wie gesagt, es gibt Hinweise. Deutliche
Hinweise sogar. In den letzten Stunden hat Ihr Bruder sich nicht bei Ihnen gemeldet?«
»Nein, wenn ich es Ihnen doch sage.«
»Frau Bilgin«, wandte sich Hain wieder an die Frau, »es kommt mir so
vor, als seien Sie entsetzt darüber, dass Ihre Mutter und Ihr Bruder getötet wurden,
für Ihren Vater scheint das allerdings nicht oder nur bedingt zu gelten. Stimmt
mein Eindruck, oder täusche ich mich?«
»Nein, das sehen Sie richtig. Ich hatte kein besonders gutes Verhältnis
zu meinem Vater; bei meiner Mutter und meinen Geschwistern sieht das aber ganz anders
aus.«
»Außerdem scheint es mir so, als seien Sie ganz und gar nicht überrascht,
dass man Ihren Vater getötet hat.«
Nun zuckte sie mit den Schultern. »Ich …«
»Wenn man mit den Schweinen suhlt, darf man sich nicht wundern, wenn
man nach Scheiße stinkt«, wurde sie von Ramona Berger unterbrochen. Lenz und Hain
sahen die Frau mit großen Augen an.
»Lass sein, Baby. Das gehört nicht hierher«, forderte Sükren Bilgin
sie eine Spur zu sanft auf.
»Vielleicht ja doch«, entgegnete Hain. »Wir sind an allem interessiert,
was uns bei der Aufklärung eines dreifachen Mordfalles weiterhelfen könnte.«
»Bei meinem Vater war vermutlich in der Realität nicht alles so wie
es von außen aussah. Was ich Ihnen dazu sagen könnte, weiß ich aber nur aus zweiter
oder dritter Hand, und darüber möchte ich absolut nicht reden. Ich bitte Sie, das
…«
Sie wurde vom Klingeln an der Haustür unterbrochen. Ramona Berner drehte
sich um und verschwand im Hausflur, Hain folgte ihr in kurzem Abstand.
»Was soll das denn?«, fragte sie pampig, noch bevor sie die Tür erreicht
hatten.
»Ich will mich nur vergewissern, dass mir nicht am Ende etwas Wichtiges
entgeht«, antwortete er freundlich, aber sehr bestimmt.
Die Frau verdrehte missbilligend die Augen, nahm den Hörer der Gegensprechanlage
in die Hand, und hielt ihn ans Ohr. »Ja, bitte.«
Hain konnte nur Wortfetzen verstehen, aber nicht, ob es ein Mann oder
eine Frau war, die unten sprach.
»Ist gut, komm hoch«, wies die Frau den Besuch an und drückte auf einen
Knopf an der Basisstation neben der Tür.
»Wer ist es?«, wollte Hain wissen.
»Sükrens kleine Schwester Melek«, blaffte Ramona Berner den Polizisten
an.
»Ist sie allein?«
Wieder ein missbilligender Blick, diesmal einer der ganz extremen Sorte.
»Das hat sie mir nicht gesagt, Herr Inspektor«, fauchte sie ihn an,
»aber wenn Sie ein paar Sekunden warten, werden Sie es erfahren, nehme ich an.«
Damit öffnete sie die Haustür und sah
Weitere Kostenlose Bücher