Rechtsdruck
einmal ein Haar gekrümmt worden, weil sich durch das höhere Gewicht der Bremsweg
signifikant verlängert hätte und sich die Fahrerkabine zum Zeitpunkt des Aufpralls
längst ein paar Meter weiter vorne befunden hätte. Der Tod des Fernfahrers, dem
der herabstürzende Fiesta mit der Bodenseite frontal in die linke Windschutzscheibenseite
krachte und die Fahrerkabine bis zum Auflieger komplett zerstörte, trat unmittelbar
ein. Es dauerte mehr als drei Stunden, bis die Feuerwehrleute und Rettungssanitäter
die Überreste des Mannes endlich geborgen hatten.
16
Die Kopfschmerzen, die Lenz seit ein paar Stunden quälten, hatten ein
Maß erreicht, das geradezu nach einer chemischen Intervention schrie.
»Ich brauche dringend ein Aspirin«, murmelte er in Hains Richtung.
»Ich hab eine Packung im Auto«, ließ der seinen Boss wissen. »Sogar
die Sorte, die ohne Wasser funktioniert.«
»Klasse«, gab der Hauptkommissar erfreut zurück, und ließ seinen Blick
dabei noch einmal durch die Wohnstube der Bilgins kreisen. »Dann lass uns abhauen.
Hier gibt es ohnehin nichts mehr zu tun.«
Die Leichen der drei Türken waren auf dem Weg in die Rechtsmedizin
oder schon dort angekommen, Rolf-Werner Gecks war seit ein paar Minuten unterwegs
zu der Bank, bei der Bilgin seinen ominösen Reichtum gebunkert hatte, und Ludger
Brandt saß vermutlich längst mit einer Tasse Kaffee in der Hand im Büro von Uwe
Wagner, dem Pressesprecher des Polizeipräsidiums Nordhessen, und klärte ihn über
die Einzelheiten des Dreifachmordes in der Nordstadt auf. Die Befragung der Nachbarn,
die Lenz ein paar Stunden zuvor veranlasst hatte, war ergebnislos geblieben. In
dem Backsteinhaus, in dem die Familie Bilgin gelebt hatte, kannte man sich zwar,
mehr jedoch nicht. Und bemerkt haben wollte zur Tatzeit niemand etwas.
Während die beiden Polizisten die Wohnung verließen, hörten sie aus
der Etage unter ihnen türkisches Sprachgeflüster, das schlagartig verstummte, als
sie auf die alte, knarrende Holztreppe traten. Hain nahm schnell ein paar Stufen,
sah neugierig um das Treppengeländer herum und blickte in das ebenmäßige Gesicht
von Frau Nasit, deren Augen im Tageslicht noch schöner wirkten, und die ein schlafendes
Baby auf dem Arm hielt. Ihr gegenüber stand ein blonder, hoch aufgeschossener Mann
in Jeans und Cowboystiefeln, dessen erschreckter Gesichtsausdruck das Interesse
des Oberkommissars weckte.
»Hallo, Frau Nasit«, begann er, und trabte mit Lenz im Schlepptau langsam
die restlichen Treppenstufen hinunter.
»Guten Tag«, erwiderte sie, wobei die Polizisten den Eindruck gewannen,
dass ihr Auftauchen der Frau sehr gelegen kam.
»Ich wollen gerade wieder in Wohnung«, erklärte sie mit der Andeutung
eines Lächelns.
»Ich muss dann auch weiter«, schob der Mann neben ihr eilig hinterher
und wandte sich zum Gehen. »Auf Wiedersehen, Frau …«
Hain stellte sich ihm mit ein paar schnellen Schritten in den Weg.
»Kripo Kassel, guten Tag. Darf ich fragen, wer Sie sind?«, wollte er höflich, aber
bestimmt wissen, kramte dabei seinen Dienstausweis aus der Tasche und hielt ihn
hoch, sodass der Mann ihn sehen konnte.
»Ich bin, ich war nur hier, weil Frau … Aber jetzt muss ich wirklich
weiter.«
»Das klingt nicht sehr überzeugend, Herr …?«
»Müller. Peter Müller.«
»Sind Sie ein Bekannter von Frau Nasit?«
Der Mann nickte eifrig, wollte an Hain vorbei und auf die Treppe treten,
doch der Oberkommissar stellte sich ihm erneut in den Weg. »Bitte nicht ganz so
schnell, Herr Müller.«
Damit wandte er sich an die Frau mit den schönen Augen. »Der Herr ist
ein Bekannter von Ihnen? Stimmt das?«
Sie sah ihn mit verständnislosem Gesichtsausdruck an. »Was Bekannter?«
»Ein Freund«, mischte Lenz sich ein. »Ist Herr Müller ein Freund von
Ihnen?«
»Nein, nix Freund. Ich nix gesehen vor heute. Nix kennen das Mann.«
Sie wies mit dem ausgestreckten linken Arm auf ihn. »Er wollen wissen, was Familie
Bilgin passiert. Sprechen Türkisch. Gut sprechen Türkisch.«
Der Mann, der sich Peter Müller nannte, knurrte genervt. »O. K«, murmelte
er, und wollte in die Innentasche seines Parkas greifen, doch Hain war schneller.
Der Polizist stoppte die Hand, bevor sie unter dem Stoff verschwinden konnte, zog
sie zu sich, drehte den Arm nach hinten, und schob den Mann mit dem Gesicht zur
Hauswand.
»Aua«, brüllte der, »sind Sie irre?«, doch Hain dachte nicht daran,
seinen Griff zu lockern. Frau Nasit folgte der Szene mit weit
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