Rechtsdruck
es für alle Menschen, und nicht nur für die Minderheiten innerhalb der Gesellschaft.
Wir sind es gerade eben auch für die Mehrheit, oder, besser gesagt, die schweigende
Mehrheit, die verdrossen und verzagt ist und glaubt, dass der Einzelne in seiner
Anonymität nichts ändern kann. Dass eine Stimme, meine Stimme, nichts bewirken kann.
All denen sage ich, dass sie irren, sie sich täuschen lassen von denjenigen, die
von dieser Haltung profitieren und mit dieser Haltung gut leben können. Ich sage
ihnen, dass sie wählen gehen sollen und damit, mit ihrer einzelnen, kleinen Stimme,
Teil einer großen Bewegung sind oder werden können.«
Fast wäre dem Chefredakteur ein ›grandios‹ oder noch besser ein ›genau
so ist es‹ herausgerutscht, doch er konnte sich im letzten Augenblick bremsen.
»Eine interessante und sicher nicht ganz unrealistische Betrachtung
der aktuellen Situation in unserer Stadt, Herr Gebauer. Da hört man wirklich die
klare Kante heraus. Aber lassen Sie mich bitte zum Schluss noch eine Frage stellen,
die mir schon seit ein paar Minuten unter den Nägeln brennt, die unter Umständen
etwas heikel von Ihnen aufgenommen werden könnte.«
»Bitte, fragen Sie nur«, erwiderte Gebauer generös.
Der Journalist tat, als würde er die Karteikarten, die er in der Hand
hielt, nach einem Anhaltspunkt durchforsten, doch für diese Frage brauchte er definitiv
keinen Spickzettel.
»Der Nominierungsparteitag Ihrer Partei für die anstehende OB-Wahl
findet in der kommenden Woche statt, und bis jetzt galt Erich Zeislinger immer als
gesetzt. Er ist der Amtsinhaber, und wenn man seinen Erklärungen der letzten Wochen
folgt, zieht er aus seinem Amt große Zufriedenheit und übt es mit aller ihm zur
Verfügung stehenden Kraft aus. Wollen Sie es wirklich auf eine Kampfkandidatur ank
…«
Gebauer hatte die Hand gehoben und damit den Satz des Interviewers
abgewürgt. »Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie unterbreche, aber diese Laudatio
kann ich nicht unkommentiert stehen lassen«, warf er ein und verfiel dabei in eine
weitere Rolle, der Rolle des jugendlichen Rebellen.
»Erich Zeislinger hat in der Vergangenheit viel für unsere Stadt geleistet,
dem will ich gar nicht widersprechen. Aber seine Amtsführung wirft bei vielen Menschen,
zu denen ich mich übrigens auch zähle, zunehmend Fragen auf. Und die wichtigste
Frage lautet: Reicht seine Kraft noch für weitere sechs Jahre als Rathauschef?«
»Wie ist Ihre Meinung dazu?«
»Ich bin da völlig im Reinen mit mir, wenn ich meine, dass dem nicht
so ist.«
»Das heißt also Kampfkandidatur gegen Erich Zeislinger?«
»Nein, das heißt es absolut nicht. Es heißt nicht mehr und nicht weniger,
als dass ich in und mit diesem Interview den Austritt aus meiner Partei öffentlich
mache und gleichzeitig meine Kandidatur als unabhängiger Kandidat für das Amt des
Oberbürgermeisters der Stadt Kassel bekanntgebe.«
22
Lenz stieg die letzten Stufen bis zur Tür seiner neuen Wohnung hinauf
und steckte den Schlüssel ins Schloss. Während er die Tür in den Flur schob, hörte
er aus dem Wohnzimmer Marias Lachen.
»Ich bin wieder zu Hause«, rief er müde und legte das Schlüsselbund
auf den kleinen Tisch neben der Tür.
Maria trat mit dem Telefon am Ohr auf den Flur und riss die Augen auf.
»Warte mal, Rita, ich … Oder nein, ich ruf dich später zurück. Bis dann.«
Damit drückte sie auf den roten Knopf an dem Gerät, warf es in hohem
Bogen auf das Sofa und sprang in seine weit ausgebreiteten Arme.
»Halleluja, hast du zugenommen?«, ächzte der Hauptkommissar mit gespielter
Mühe.
»Ich kratz dir mit bloßen Händen die Augen aus, wenn du diese für eine
akribisch auf ihr Gewicht achtende Frau zutiefst beleidigende Frage nicht sofort
und auf der Stelle zurücknimmst«, erwiderte die Nochehefrau des Kasseler Oberbürgermeisters
mit ebenso unechter Entrüstung und küsste den Polizisten dabei stürmisch.
»Einverstanden«, keuchte Lenz, betrat mit ihr auf den Armen das Wohnzimmer
und setzte sie behutsam in einem Sessel ab. Danach streckte er sich, ließ sich auf
der Lehne des Sitzmöbels nieder, und küsste ihr Haar.
»Was für ein Scheißtag«, fasste er die Ereignisse der vergangenen Stunden
zusammen.
»Erzähl«, forderte sie ihn sanft auf, während sie ihren Kopf auf seinen
Oberschenkel sinken ließ.
»Das würdest du nicht hören wollen, Maria«, entgegnete er ebenso behutsam,
doch im Subtext seiner Worte schwang unüberhörbar mit, dass er gerne
Weitere Kostenlose Bücher